Wirtschaft

Das neue Internetfernsehen

Das Aufkommen der Gebärdensprache im Internetformat geschah mit sogenannten Web-TV-Formaten. Zum Beispiel FocusFive, das den ersten Gebärdensprache-Web-TV-Formaten zählt und seit 2003 kontiunierlich bis Ende 2014 Nachrichten- sowie Interviewsendungen bilingual mit Untertitel ausstrahlte. Das Schweizer Format fand deshalb weltweit schon über 10 Nachahmer. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten legte FocusFive Ende 2014 eine Pause ein. «Wir wollen erreichen, […]

Das Aufkommen der Gebärdensprache im Internetformat geschah mit sogenannten Web-TV-Formaten. Zum Beispiel FocusFive, das den ersten Gebärdensprache-Web-TV-Formaten zählt und seit 2003 kontiunierlich bis Ende 2014 Nachrichten- sowie Interviewsendungen bilingual mit Untertitel ausstrahlte. Das Schweizer Format fand deshalb weltweit schon über 10 Nachahmer. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten legte FocusFive Ende 2014 eine Pause ein. «Wir wollen erreichen, dass wir auf politischer Ebene finanzielle Unterstützung erhalten», so Stanko Pavlica, Geschäftsführer bei FocusFive.

Das österreichische Format Gebärdenwelt, das seit 2008 über 28.000 Nachrichten in ÖGS (Österreichischer Gebärdensprache) sendete, ist noch heute aktiv. DeafNation, eine internationale Organisation von Joel Barish aus den USA strahlt ebenfalls seit 2003 Nachrichten- und Interviewsendungen aus. Durch die Deaf Expo sind Hörbehinderte stärker vernetzt als andere internationale Formate wie iDeafNews oder ‹H3›. Weiterhin gibt es bildungsorientierte Formate wie ‹vibelle›, ‹deafexist› oder ‹Gateway-TV›.

Mit dem Aufkommen von Facebook ergab sich die Möglichkeit, Informationen direkt an die Zielgruppe zu streuen. Durch die stetige Entwicklung von Facebook stärkte sich das Netzwerk für den Informations- und Meinungsaustausch zwischen hörbehinderten Menschen. Vorerst basierte der Austausch auf der Schriftsprache, womit sich eine Teilgruppe noch heute schwer tut. Lange Zeit bestand das Internet hauptsächlich aus Text und Standbildern. Durch neue Informationsdienstleister, Vloggers und Projekte die sich der Thematik Hörbehinderung und Gebärdensprache widmen, entwickelte sich das Netzwerk nach und nach zu einem einzigen Massenmedium.

Früher tauschten sich Hörbehinderte noch durch Videotelefonie mit ooVoo oder Skype aus. Für den öffentlichen Austausch machten sie von YouTube Gebrauch. Mit den neuen Features, die Facebook ab 2014 fortlaufend in das soziale Netzwerk integrierte, verlagerte sich der Informationsaustausch auf Facebook.

Videotelefonie

Seit Mai 2015 konkurrenziert Facebook mit der Neueinführung der Videotelefonie im Messenger mit ooVoo, Skype und anderen Dienstanbietern. Nutzer können über die Messenger-App oder auf dem Desktop in akzeptabler Qualität eine Videounterhaltung starten. Auf dem Smartphone kann die Haupt- oder Frontkamera genutzt werden.

Einbindung von Untertiteln

Nach der Einführung der Videotelefonie, ließ Facebook nicht locker. Lange Zeit war YouTube Vorreiter in Sachen Videos mit Untertiteln. Erst im Juni 2014 entdeckte hearZONE eine Untertitelfunktion auf Facebook, die aber nach einem Tag wieder entfernt wurde (Testmodus), jedoch in den USA bereits verfügbar war. «Closed Captions» (Geschlossene Untertitel), so heißt das neue Feauture, das nach der Erneuerung der Videoansichten im November 2015 in Europa freigeschaltet wurde.

SRT-Untertitel

Die Integration der Untertitel ist umständlicher als mit dem Untertitel-Editor von YouTube. Zunächst müssen die Uploader die Untertitel lokal mittels einer Software erstellen und als SRT-Datei abspeichern. SRT-Untertitel sehen als Reintext so aus:

1
00:00:46,963 --> 00:00:50,968
Hallo! Wie geht es Dir?

2
00:00:51,102 --> 00:00:54,102
So sehen Untertitel aus.

Für OSX-Betriebssysteme empfiehlt es sich den Editor «Subtitle Edit» zu kaufen. Für Windows-Betriebssysteme gibt es gängige Freewares im Netz. Eine komplett kostenfreie Option ist der Untertitel-Editor von YouTube, wo nach der Untertitelerfassung diese in einer SRT-Datei abgespeichert werden können. Diese Datei lässt sich dann mit dem Video auf Facebook hochladen.

Hörende integrieren Untertitel auf Facebook

Im Frühjahr ließ Facebook beim Scrollen der Chronik die Videos automatisch abspielen. Dieses Feature lässt sich in den Einstellungen deaktivieren. Die Marketer fanden darin rasch ein großes Potenzial, um mehr Aufmerksamkeit in ihrer Zielgruppe zu erregen. So brannten Focus Online, Spiegel Online, Süddeutsche Zeitung, heute show und weitere redaktionelle Einrichtungen Untertitel direkt in ihre Videoclips ein, so dass Nutzer beim automatischen Abspielen über die Untertitel auf den Inhalt aufmerksam gemacht werden. Ohne den Ton einzuschalten, können NutzerInnen über die Untertitel den Inhalt verstehen. Diese Idee von hörenden Marketer ist für viele Hörbehinderte ein sehr großer Gewinn.

Die Nase zuvorderst

Vorreiter in Sachen Untertitel auf Facebook ist die deutsche Bundesregierung. Ein Großteil ihrer Videos sind mit eingebrannten Texten (Überschriften) oder manuell einstellbaren Untertiteln ausgestattet. So werden politische Themen auch für Hörbehinderte in Deutschland gemäss der ratifizierten UN-BRK endlich barrierefrei zugänglich. Noch ist nicht das ganze Potenzial der UN-BRK auf Bundesebene ausgeschöpft.

Rikki Poynter

Die hörbehinderte US-Bloggerin Rikki Poynter vloggte vor 2014 hauptsächlich über Mode- und Makeup-Themen. Im März 2016 wandte sie sich über ihren YouTube-Kanal mit einer Forderung an gebärdensprachorientierte Hörbehinderte: Untertitel in Gebärdensprachvideos einbauen. Diese Forderung richtete sich auch an hörende Menschen. Schnell fand sie viele Anhänger im Netz. «Es ist wichtig, dass auch Außenstehende der Gebärdensprachgemeinschaft Inhalte von GebärdensprachnutzerInnen verstehen», sagt Rikki ernst. «Hörende und lautsprachorientierte Hörbehinderte können durch die Untertitel Gebärdensprache erlernen.» Auf ihrem YouTube-Kanal finden sich über 130 Videoclips. – alle untertitelt. Die Bloggerin schreckt vor nichts zurück und will ihre Inputs vermitteln. Auf ihrer Facebook-Seite tummeln sich bereits knapp 5.000 Anhänger.

Das Vorbild Amerika

Nicht nur Rikki geht mit gutem Beispiel voran. So untertitelt die hörbehinderte Familie Vollmar ihre Vlogbeiträge über ihr taubblindes Baby Clarisa Vollmar, das am 30. Juni 2015 zur Welt kam, auf der Facebook-Seite und lässt tausende Menschen am Leben des süßen Mädchens teilhaben. Schaut man nach Amerika, fällt auf, dass Hörbehinderte eher bereit sind, ihre Beiträge zu untertiteln. Das zeigt auch das Web-TV-Format ‹DPAN.TV› von Sean Forbes, das alle Inhalte vollständig mit Untertiteln ausstattet.

Situation in der DACH-Region

Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich unter Hörbehinderten schleichend ein Verständnis dafür. Seit 2013 unterstreicht hearZONE die Forderung von Rikki Poynter. Patrick Erwin Mierke aka PEM gab im Vorjahr durch seinen eingestellten Vlog ‹pemproduktion› einen neuen Denkanstoß, Untertitel in Gebärdensprachvideos zu integrieren. Mit der im Februar 2016 lancierten Initiative «Wir brauchen Untertitel»,  für die sich auch PEM als Mitgründer stark machte, konnte in Höchstgeschwindigkeit ein starkes Netzwerk mit Hörbehinderten geknüpft werden (knapp 10.000 «Gefällt mir»-Angaben). Diese Initiative untertitelte ihre eigenen Videobeiträge und gab damit einen Anstoß an ihre NutzerInnen, die eigenen Videos auch zu untertiteln.
Noch nicht alle bereit

Nicht alle VloggerInnen identifizieren sich mit der Forderung, wissen aber über den Gewinn Bescheid. Einige Vlogger meinten, die Umsetzung sei noch in Arbeit. So greifen wenige auf die Schriftsprache zurück und fassen das Gesagte im Gebärdensprachvideo als Text zusammen.

Starke Zunahme an Fanseiten und gesteigerte Aktivität

Ein starker Zuwachs an neuen Facebook-Seiten wie z.B. Julia’s Gebärdenlieder, Vanessa’s Gebärdenlieder, Wir brauchen Untertitel, MPD, Alan Golaj Vlog oder Bobi’s Vlog ist zu erkennen. Immer mehr Inhalte zu den verschiedensten Themen – auch politische – werden geteilt. Ein aktiver Meinungs- und Informationsaustausch findet statt. Einige Formate dienen der Unterhaltung und andere der Diskussion.

Abseits von der Forderung, entwickelt sich die Facebook-Chronik zu einer Massenansammlung von Videos in Gebärdensprache. Laut unserer Umfrage (siehe unten) sehen Nutzerinnen im Schnitt 3 Videos pro Tag in Gebärdensprache. Das ergibt 90 Videos im Monat. Durch die neuen Features wird das Postingverhalten kontinuierlich steigen.

Das zeigt die Aktion «Meine Lieblingsgebärde» von Anfang Juli 2016, wo hunderte von Hörbehinderten aktiv mitmachten. Sie mussten ihre Lieblingsgebärde vorstellen und durften dann drei weitere Auserwählte für diese Aufgabe nominieren. Weitere Beispiele von verstärktem Nutzerverhalten sind Aktionen von der Initiative ‹Wir brauchen Untertitel› oder Aufforderungen für Vereine und Projekte zu voten.

Facebook Live

Facebook lässt die Herzen der GebärdensprachnutzerInnen höher schlagen mit der Live-Streaming-Funktion. Zunächst war das Feature im März 2016 auf iOS-Geräten verfügbar. Einen Monat später auf allen Endgeräten. Ümit Cucu (hZ #25) machte mit Christine Tschuschner einen auf ‹Deaf Radio› und sorgten für erhebliche Aufmerksamkeit in den sozialen Medien.

Seit der Einführung finden täglich Live-Übertragungen von GebärdensprachnutzerInnen statt. Vloggers wie Alan Golaj oder Björn Blumeier starten inzwischen einen regelmäßigen Livestream um mit ihren Nutzern über die Live-Kommentare zu interagieren. Die Themen weichen von Vlogger zu Vlogger ab. Der größte Nachteil beim begehrten Livestream ist, dass keine Untertitel integriert werden. Diese Problematik gilt auch umgekehrt, wenn ein Livestream in Lautsprache gesendet wird.

Videokommentare

Es wird immer besser. Im Juli 2016 lancierte Facebook die Option, in den Kommentaren nicht nur wie üblich mit Fotos zu kommentieren, sondern nun auch mit Videos zu antworten. Das Hochladen von Videokommentaren funktioniert über das Fotosymbolrechts neben dem Input-Feld. Allerdings besteht keine Option, den Videokommentar mit Untertitel hochzuladen. So müssten, wenn Sinn für Barrierefreiheit besteht, Untertitel direkt im Video eingebrannt werden.

Videokommentare als Austauschmedium

Die Video-Kommentarfunktion ist noch relativ jung und unentdeckt. Das zeigt die wenige Verwendung in der Facebook-Gruppe «Deaf World Love Sign Language V.I.P.», wo über 80.000 Mitglieder weltweit sich in Gebärdensprache austauschen. Dieses Feature könnte in Zukunft einen potenziellen Wert für den gebärdensprachlichen Austausch in Gruppen und Diskussionsforen haben. Ob diese Funktion eine große Resonanz wie beim Livestream erfahren wird, bleibt abzuwarten.

Globalisierung

Facebook trägt den größten Teil zur Globalisierung bei. Globalisierung bezeichnet den Vorgang, dass internationale Verflechtungen in vielen Bereichen wie Wirtschaft, Politik, Kultur, Umwelt oder Kommunikation zunehmen und zwar zwischen Individuen, Gesellschaften, Institutionen und Staaten.

In der Welt der Hörbehinderten ist zu sehen, dass Inhalte von der amerikanischen und internationalen Gebärdensprachgemeinschaft immer mehr in der DACH-Region geteilt werden. Ein gutes Beispiel sind poetische Gebärdensprachvideos die weltweit bei GebärdensprachnutzerInnen Anklang finden oder berühmte Persönlichkeiten mit eindrücklichen Erfolgen wie Topmodel Nyle DiMarco.

So entsteht der Eindruck, dass mehr Inhalte in Gebärdensprache verfügbar sind – in der Tat! Würde man alle internationalen Facebook-Seiten folgen, füllt sich die Startseite von Facebook schnell mit überwiegend mehr Videoinhalten.

Am Puls der Zeit

Um auf den Ursprung der Web-TV-Formate zurückzugreifen, werden diese Internetseiten durch den starken Austausch über Facebook immer mehr verdrängt bzw. erzielen zudem auch weniger Zugriffe. Um mitzuhalten, ist ein Umdenken gefordert. Das bedeutet, dass auf Webseiteninhalte durch Videobeiträge auf Facebook aufmerksam gemacht werden müssen – diesen Schritt haben viele Publizisten inzwischen eingeleitet. Ein strategisches Plus ist die Einbindung von Untertiteln. Damit wird eine neue Zielgruppen angesprochen und die Reichweite steigert sich.

Die Zukunft mit Facebook

Noch sind die Neuerungen auf Facebook jung. Trotzdessen gibt es inzwischen so viele Videobeiträge in Gebärdensprache und mit Untertiteln, dass ein Dauerprogramm verfügbar ist.

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