Verena Wiss, hörbehindert und Lehrerin an der Berufsschule für Hörgeschädigte (bsfh.ch) in Oerlikon teilt uns mit, wie sie den Unterricht führt aber auch meistert.
Sie sind hörgeschädigt und unterrichten an der BSFH Oerlikon in Zürich für Hörgeschädigte. Wie ist das für Sie?
Für mich ist es eine schöne, bereichernde und herausfordernde Arbeit.
Dass ich als Betroffene in einer Institution für Hörgeschädigte arbeiten kann, ist eine Chance, über die ich mich sehr freue und für die ich sehr dankbar bin. Mit der Doppelrolle „Selbstbetroffene und Lehrperson“ umzugehen ist manchmal aber anspruchsvoll und setzt unter anderem einiges an Selbstreflexion voraus.
Seit wann sind Sie hörgeschädigt? Und wie?
Ich bin von Geburt an hochgradig schwerhörig.
Als Lehrerin müssen Sie beinahe alle Kommunikationsmittel verwenden. Lautsprache sowie Gebärdensprache. Welche verwenden Sie hauptsächlich?
Das kann ich so nicht sagen. Es ist abhängig von meinem Gegenüber und dieses wechselt immer wieder.
Betreffend Unterricht ist es so, dass meine Klassen von Jahr zu Jahr ändern und darum auch der Schwerpunkt meiner Kommunikationsform.
Einerseits habe ich Lernende, die aus der Integration kommen, andererseits solche mit einem Migrationshintergrund oder Personen, die nebst der Hörbehinderung zusätzlich noch Einschränkungen haben. Das Spektrum an Kommunikationsformen reicht darum von Schweizer Deutscher Lautsprache über Standard Lautsprache, Schriftsprache, Lautsprache mit Gebärden unterstützt und Gebärdensprache bis zu Lormen…….
Es ist auch so, dass ich innerhalb einer Klasse oft Personen habe, von der jede eine andere Kommunikationsform benutzt/beherrscht.
Wenn wir zusammen in der Gruppe arbeiten, suche ich einen Weg, um alle gleichzeitig erreichen zu können. Geht das nicht, wird es schwierig, dann muss ich eine Mitteilung zwei Mal weiter geben – in verschiedener Form – und auch Übersetzungsarbeit leisten.
Als Lehrperson muss ich aber nicht nur unterrichten. Ich pflege auch Kontakte zu den BerufsbildnerInnen, Eltern und Betreuungspersonen unter anderem. Hier ist die Lautsprache/ Schriftsprache das Hauptkommunikationsmittel.
Auch mit den LehrerkollegInnen bin ich im Austausch. Wir haben verschiedene Arbeitsgruppen und Fachgruppensitzungen, Konvente usw. Hier ist die Lautsprache/Schriftsprache die Kommunikationsform.
Haben Sie das Gefühl, die Schüler nicht zu verstehen oder achten auch die Schüler auf Wiederholungen falls etwas nicht verstanden wurde?
Es kann selbstverständlich vorkommen, dass ich einen Schüler oder eine Schülerin nicht oder nicht ganz verstehe. Das passiert am ehesten, wenn Lernende sehr schnell gebärden. Dann sage ich das.
Auch die SchülerInnen melden sich, wenn sie den Eindruck haben, sie seien von mir nicht richtig verstanden worden.
In beiden Situationen nehmen wir uns dann Zeit, um das zu klären. Es ist mir wichtig, eine gute Kommunikationsbasis zu schaffen, in der beide Seiten Verantwortung übernehmen und offen sind.
Was hat Sie dazu bewegt, Hörgeschädigte zu unterrichten? Und warum die BSFH Oerlikon?
Ich habe mich vom Anfang meiner Ausbildung an mit mehrfachbehinderten Personen befasst. Da ich selber hörbehindert bin, hat mich der Bereich der Hörgeschädigtenpädagogik ganz besonders interessiert.
Zur BSFH bin ich gekommen, weil ich angefragt wurde, dort mit hörbehinderten Lernenden mit zusätzlichen Schwierigkeiten auf Anlehr-Stufe zu arbeiten und mich das sehr angesprochen hat.
Wie lange unterrichten Sie bereits Hörgeschädigte in der Schweiz?
Das sind etwa 30 Jahre – an verschiedenen Orten.
Fühlen sich die Schüler eher verstanden, wenn sie eine hörgeschädigte Lehrperson haben?
Diese Frage müssten eigentlich meine Lernenden beantworten.
Von mir her kann ich Folgendes dazu sagen:
Ich denke man muss zwischen 2 Arten von „verstehen“ unterscheiden:
– Die Empfängerin kennt die Sprache der Senderin, versteht diese und kann sie auch selber problemlos anwenden.
– Die Empfängerin kennt die Situation/ hat schon ähnliches erlebt.
Den ersten Punkt kann eine gut hörende Person auch abdecken.
Beim zweiten ist eine selbstbetroffene Lehrperson sicher näher bei der lernenden Person. Diesbezüglich habe ich schon mehrmals sehr positive Rückmeldungen von Lernenden bekommen, aber auch zum ersten Punkt.
Was vielleicht erstaunen mag:
Es gibt immer wieder auch Lernende, die aus der Integration kommen, eine korrekte Aussprache haben, aber sehr undeutliche Lippenbewegungen. Bei diesen Personen kommt es vor, dass ich sie nicht auf Anhieb verstehe – von der Artikulationsart her – und nachfragen muss. Für diese Personen ist das oft neu und z.T. nicht nachvollziehbar, dass die Lehrperson auf klare Lippenbewegungen angewiesen ist.
Bekommen die Schüler in Ihrem Unterricht hauptsächlich Übungen und Lesematerial oder unterrichten Sie diese auch lautsprachlich?
Lesen und Schreiben sind Teil meines Unterrichts. Den grösseren Teil machen jedoch Diskussionen(je nach Lernende in Lautsprache und/oder Gebärdensprache), Klassengespräche, Rollenspiele, Gruppenarbeiten, Projektarbeiten, Fotografier-/Videoaufträge usw. aus. Nebst all diesen eher kopflastigen Tätigkeiten begleite ich die Lernenden auch in den Sportstunden – ein toller Ausgleich.
Anmerkung:
Wie schon erwähnt unterrichte ich auf EBA-Stufe (2 Jahre) oder bei Ausbildungen Pra- INSOS (1 Jahr), diese entsprechen der früheren Anlehr-Stufen. Für einige Lernende ist das Lesen eher schwierig. Es ist liegt darum in der Natur der Sache, dass ich nebst dem Lesen ganz verschiedene Unterrichtsformen einsetze und der praktische Bezug, das Handeln einen wichtigen Platz einnimmt.
Benutzen Sie oder Ihre hörgeschädigten Schüler im Unterricht Hilfsmitteln zur Unterstützung?
Alle Lernenden sind junge erwachsene Personen. Darum entscheidet jede/r selber, welche persönlichen Hilfsmittel er/sie benutzen will.
Viele tragen ein Hörgerät oder ein CI (Cochlea Implantat). Einige tragen bewusst ihr Hörgerät oder CI nicht mehr.
Wenn eine Person den Einsatz einer FM-Anlage wünscht, setzen wir diese ein.
Alle Schulzimmer verfügen über Visualizer und Beamer.
Ich persönlich trage Hörgeräte. Bei Sitzungen mit vielen TeilnehmerInnen habe ich zusätzlich noch meine FM-Anlage.
Haben Sie das Gefühl, dass die Schüler Sie im Unterricht bevorzugen, weil Sie hörgeschädigt sind? Wenn ja, wie sehen Ihre Arbeitskollegen das?
Das ist schwierig zu sagen. Ich habe den Eindruck, dass das sicher bei einem Teil der SchülerInnen der Fall ist, vor allem bei jenen Lernenden, die auf Gebärdensprache oder Unterstützung mit Gebärden angewiesen sind.
Ich erlebe nicht selten, dass Lernende mit Fragen oder Problemen zu mir kommen, obwohl diese den Fachunterricht oder den Lehrbetrieb betreffen. Dies einfach, weil die Lernenden an den betreffenden Orten in ihrer Sprache/sprachlich und oder in ihrem Sosein nicht verstanden wurden.
Ich weiss von Lernenden, die stolz sind, eine selbstbetroffene Lehrperson zu haben und das z.B. ihrem Lehrmeister auch so erzählen.
Für diese ist es eine Erleichterung, dass sie in ihrer Sprache kommunizieren können und verstanden werden. Es ist aber offenbar auch für ihren Identitätsfindungsprozess wichtig, da sie sonst eher auf wenige hörbehinderte erwachsene Vorbilder treffen.
Meine ArbeitskollegInnen sehen das unterschiedlich.
Ist Ihr Traumberuf Lehrerin oder hatten Sie als hörgeschädigte Person andere Vorstellungen? Verhinderte Ihre Hörschädigung Ihren Traumberuf?
Als Kind wollte ich immer gerne Primarlehrerin werden. Später – im Gymnasium – gab es auch andere Berufe, die mich sehr interessierten und die ich für mich vorstellen konnte. Ein Bereich war die klinische Heilpädagogik, die ich dann auch wählte. Später absolvierte ich noch weitere Ausbildungen.
Meine Hörsituation hatte einen Einfluss auf meine Berufswahl, grenzte sie ein.
Haben Sie ausserhalb des Unterrichts mit Hörgeschädigten zu tun?
Ja, ich pflege auch privat Kontakte mit hörbehinderten Menschen.
Oft ist es doch so, dass beeinträchtigte Menschen mehr Mut und Potenzial für grössere Ziele haben. Wie sehen Sie das?
Ziele, welche von Aussenstehenden als klein betrachtet/empfunden werden, können für die betreffende Person – egal ob beeinträchtig oder nicht – grosse sein.
Ich möchte darum nicht in diesen Kategorien denken.
Wenn Sie zurückblicken, wie die Kommunikation früher verlief, welchen Unterschied bemerken Sie zu heute?
Zu meinem Hintergrund: Ich wuchs in meinem Elternhaus, in einer gut hörenden Familie auf und besuchte stets die öffentlichen Schulen. Wie es in Spezialinstitutionen „lief“, weiss ich nur aus der Literatur und von persönlichen Erzählungen von KollegInnen.
Ich versuche einfach und kurz zu antworten. Vollständig und sehr differenziert kann in diesem Rahmen keine Antwort zu diesem Thema sein.
Damals waren die meisten Fachleute der Überzeugung, dass die Lautsprache/Schriftsprache der richtige Weg ist und man bot selten verschiedene Kommunikationsformen an. Für Eltern war es daher schwierig, sich ein umfassendes Bild zu machen. Meist war „klar“, dass die Lautsprache und Schriftsprache d i e Kommunikationsform ist. Artikulation hatte meist einen grossen Stellenwert.
Von Hilfen wie Gebärdensprachdolmetscherinnen, Untertiteln, SMS, Telefonvermittlungsdienst, Skype usw. war man noch weit entfernt.
Ich denke, heute ist man einige Schritte weiter. Die Eltern werden besser und breiter informiert. Es werden verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt. Es gibt eine Wahl.
Die Fachleute sind offener und sensibilisierter als früher. Auch in der Öffentlichkeit fand/findet ein Umdenken statt. Es gibt viele Hilfsmittel.
In der Arbeits“welt“ wird nach wie vor Lautsprach- und Schriftsprach-Kompetenz verlangt.
Wie reagieren Menschen allgemein, wenn sie feststellen, dass Sie hörgeschädigt sind?
Das ist sehr unterschiedlich.
Viele sind erstaunt.
Andere wechseln ohne zu fragen sofort von Schweizerdeutscher Lautsprache in Standardsprache.
Einige wissen es nicht einzuordnen und verwechseln schwerhörig mit dumm und verhalten sich mir gegenüber entsprechend. Wenn ich dann z.B. sage, dass ich an einer Universität studiert habe, setzt ein Denkprozess ein. Es passierte aber auch schon, dass mich dann eine Person fragte, ob ich das Studium denn überhaupt abgeschlossen hätte.
Wenn ich auf der Strasse von Fremden angesprochen werde und ich nachfragen muss und informiere, dass ich hörbehindert bin, wenden sich einige ab.
Gibt es etwas, was Sie den Hörgeschädigten gerne mitteilen möchten?
Offenheit, Toleranz und gegenseitiger Respekt sind auch in unserem Kreis ganz wichtig.
Die Bedürfnisse sind je nach Hörsituation sehr verschieden, doch uns verbindet auch vieles. Wir sind nur gemeinsam stark, wenn wir etwas bewirken oder verändern möchten. Es braucht Solidarität.
Möchten Sie auch den Hörenden etwas mitteilen?
Seien Sie bitte dem Fremden, dem „Anders Sein“ gegenüber offen.
Ich bedanke mich bei all jenen, die nicht einseitig – also nur von uns – Anpassungsleistung erwarten. Das ist eine Erleichterung für uns.