Wie zerstört muss ein Land sein, dass immer mehr Menschen das Land verlassen. Gefährliche Wege auf sich nehmen und wissen sie können dabei sterben. Auch Hörbehinderte fliehen.
Abdullah und Tarek flohen 2013 über verschiedene Wege nach Deutschland. Sie kamen im Spätherbst 2014 in Deutschland an (Online Beitrag: «Die seltenste Ressource heißt Hilfsbereitschaft»). Die beiden flohen über das Mittelmeer vom afrikanischen Kontinent nach Italien. Aktuell wissen wir von zehn hörbehinderten Flüchtlingen in Nordrhein-Westfalen. Vor zwei Wochen teilte hearZONE auf seiner Fanpage mit, dass zwölf weitere syrische Hörbehinderte über die Balkanstaaten unterwegs sind. Darunter auch ein Flüchtling der im Rollstuhl sitzt. Die Gruppe wurde im weiteren Verlauf getrennt. Mit Sicherheit wissen wir, dass einer von ihnen in Wien angekommen ist und dort freundlich aufgenommen wurde.
Ayham, Alaa und Mohamad
Ayham, Mohamad und Alaa kamen am 9. September auf deutschem Boden an. Auch sie flohen über die Balkanstaaten. Ayham ist 20 Jahre alt und kann sich glücklich schätzen, dass sein Charme und Humor ihm hilft, psychisch nicht vollends abzustürzen. Ayham wurde 2013 in Syrien denunziert und sieben Tage in Haft gesteckt. Die Gefängnislage ist nicht vergleichbar mit Deutschland. Er erlebte dort: «das wahre Syrien». Nachdem er wieder frei war, dauerte es nicht lange, als er über Libyen in die Türkei floh. In der Türkei traf er auf mehrere Freunde und Bekannte aus Syrien, darunter auch Alaa – einem sehr guten Freund von Ayham. Alaa (23J.) floh ebenfalls in die Türkei, weil er in Syrien keine Arbeit mehr fand und vor allem, weil er sich um sein Leben fürchtete. Mohamad (22J.) war in Syrien in der gleichen Schule wie Abdullah, Tarek und Alaa. Allerdings war Mohamad nicht eng mit ihnen befreundet, weil er zu den «Lautsprachlern» gehörte. Ayham besuchte die Regelschule, war aber Mitglied im Clubheim der Hörbehinderten in Damaskus. Mohamad nicht. Über Umwege fand Mohamad – mit geringer Gebärdensprachkompetenz – zu Ayham und Alaa. Ayham überredete seine Freunde, gemeinsam nach Deutschland zu fliehen. Zu dritt arbeiteten sie in einer Milchfabrik in Istanbul und sparten sich ihr Geld für ihre Reise nach Europa. Juli 2015 war es endlich soweit. Pro Kopf hatten sie 2600€ zusammengespart und waren bereit auf das Ungewisse. Ein Freund von Ayham vermittelte sie an einen Schleuser, der sie an die Türkischen Küste in der Nähe von Izmir brachte und ein Boot zur Verfügung stellte. Alle drei zogen los von Istanbul nach Izmir.
Izmir
In Izmir angekommen warteten sie einige Tage, übernachteten im Hotel des Freundes von Ayham. Die drei waren sehr ungeduldig, da auch das angesparte Geld für das Hotel und die Unkosten drauf ging. Doch der Freund sagte immer wieder, «wartet, die See ist nicht ruhig». So warteten sie eine Woche. Plötzlich bekamen sie am 25. August 2015 in der Früh eine Nachricht: «Heute Abend 18 Uhr». Sofort packten sie ihre sieben Sachen und waren wie vereinbart um 18 Uhr am Treffpunkt. Pünktlich um 20 Uhr kam ein kleiner LKW und sie stiegen hinten ein. Im LKW waren noch 45 weitere Personen und es war stickig und heiß. Und dunkel. Sie waren taub und blind und mussten vertrauen. Nach einer dreistündigen Fahrt waren sie an der Küste angekommen. Dort hieß es dann, dass sie warten sollen. An der Stelle, wo sie warten sollten, herrschte eine Mückenplage. Die drei deckten alle Körperteile, auch die Hände zu und warteten. Noch bevor die Sonne aufging, ging es plötzlich los. Der Mann, der die Gruppe anführte, führte sie unmittelbar zur Küste. Dort wartete ein Schlauchboot, 6 Meter lang, auf sie. Nach und nach stiegen sie ein, Frauen und Kinder in die Mitte und die Männer an den Bootsrand. Der Führer fragte, wer das Boot steuern kann und Erfahrung hat. Es meldete sich einer. Es bildete sich ein Team, einer hielt Ausschau und navigierte, einer kontrollierte den Motor und einer steuerte den Motor. Nachdem der Führer dem Steuermann noch einmal alles erklärte schubste er das Boot in das blaue Ungewisse. Der Motor wurde angeschaltet und sie fuhren auf See. Das Meer war nicht besonders ruhig und es erforderte höchste Konzentration aller Bootsinsassen. Sie mussten ruhig bleiben, keinesfalls das Handy nutzen und keine Töne vor sich geben. Der Steuermann war vollends überfordert und navigierte das Boot statt in Richtung Griechenland immer wieder in Richtung zur türkischen Grenze. Nach etlichen Stunden ist es ihm gelungen, der griechischen Grenze näher zu kommen. Er hielt dem Druck nicht mehr stand und gab Gas. Das Boot beschleunigte sich und alles nahm eine Wendung. Das Boot steuerte wieder auf die türkische Küste zu und zu allem Überfluss explodierte der Motor. Sie trieben nun auf dem Meer und das Boot füllte sich mit Wasser. Die Wellen schlugen höher. Eine Frau hatte zwei Babys an Bord. Dieser Umstand verfrühte die Panik. Aufgrund der Wellen musste die Mutter sich übergeben und überließ Mohamad ihre Babys. Dadurch, dass er die Babys halten musste, war ihm erst recht mulmig und wünschte sich, er hätte dieses Boot nie bestiegen. Die Wellen schlugen hoch, das Boot trieb und Wasser sammelte sich im Boot. Alle waren nun daran beteiligt, das Wasser mit ihren Trinkflaschen aus dem Boot auszuschütten. Als sie sahen, wenn man sich ins Boot legen würde komplett unter Wasser lägen, waren sie verzweifelt und riefen die türkische Polizei zu Hilfe. Keine Stunde später war die Türkische Küstenpolizei da und rettete die Gruppe. Nachdem sie auf der Polizeistation registriert wurden, wurde ihnen einen Bescheid ausgestellt, dass sie alle bis zum 24. September 2015 aus der Türkei ausreisen mussten, bzw. nach Syrien zurück mussten.
Der zweite und zweieinhalbe Versuch
Mit Vorwürfen begegneten alle drei dem Freund von Ayham in Izmir und bestanden auf einen zweiten Versuch in kürzester Zeit. Das Problem war nicht die Zeit, sondern das Geld. Sie hatten viel gearbeitet und das Geld soll nicht unnötig für Hotelkosten drauf gehen. Trotz der ersten Unglückserfahrung waren die drei weiterhin mutig genug sich ihrem Schicksal zu stellen. Nun das Problem war die See. Sie war nicht ruhig und schlug hohe Wellen. Sobald die See wieder ruhig war, konnten sie ihren zweiten Versuch starten. Sie warteten wieder eine Woche bis sie ihr OK vom Schleuser erhielten. Sie gingen wieder um die gleiche Zeit zum gleichen Treffpunkt. Wieder ging es um 20 Uhr in einem stickig, heißen und dunklen LKW los zur Küste. Nach zwei Stunden hielt der LKW an. Die drei vermuteten, dass der Fahrer tanken musste. Die Gruppe, unter denen auch viele, die beim ersten Versuch dabei waren, verhielten sich ruhig und warteten knapp eine Stunde. Doch dann ging die Luft aus und einige Kinder fingen an zu jammern. Der LKW, ist nicht so wie wir Deutschen es kennen. Die LKWs in der Türkei sind mit einer Plane überzogen. Deshalb konnte einer der Gruppe die Plane mit seinem Taschenmesser aufschneiden und nachsehen was los war. Ernüchternd musste die Gruppe feststellen, dass der LKW am Straßenrand hielt und weit und breit kein Fahrer zu sehen war. Er hatte sie verlassen. Per Anhalter fuhren sie zurück nach Izmir.
Ein paar Tage später versuchten sie es erneut. Der Ablauf war wie beim ersten Fluchtversuch, sie kamen auch an den Ort, an dem die Mücken waren. Dort verbrachten sie eine Nacht. Am nächsten Morgen mussten sie feststellen, dass die Gruppe bereits abgereist war und sie aufgrund ihrer Hörbehinderung das Signal verpasst haben.

Der dritte Versuch
Alaa, Mohamad und Ayham waren wütend auf den Freund von Ayham, der die drei praktisch drei Mal an den selben erfolglosen Schleuser vermittelt hatte. Sie verlangten ihr Geld zurück und wechselten den Schleuser. Alaas Cousin kannte einen Schleuser und vermittelte sie an ihn. Wieder warteten sie eine Woche darauf, dass das Meer ruhig wurde und als sie ihr OK erhielten, fuhren sie wieder mit einem LKW drei Stunden an die Küste. An der Küste angekommen, stellten sie fest, dass es der gleiche Ort, wie beim ersten Versuch war. Aber dieses Mal war das Boot größer. Dieses Mal betrug die Länge des Bootes 9 Meter. Ayham, Alaa und Mohamad sind dem Schicksal ein Mal entkommen und nahmen es dieses Mal selbst in die Hand. Ein hörender ebenfalls syrischer Flüchtling der beim ersten und zweiten Versuch ebenfalls dabei war und mit ihnen befreundet ist, übernahm das Steuer. Ayham setzte sich zu ihm und erklärte sich bereit, die Navigation zu übernehmen. Alaa kontrollierte den Motor. Mohamad checkte die Gruppe. Es war sehr ruhig und sehr früh am Morgen. Der Schleuser zeigte ihnen nochmals die Richtung und in welche Richtung sie nicht dürfen und schubste das Boot ins Wasser. Nun war die Gruppe wieder auf sich allein gestellt. Mit Bedacht steuerten sie gemeinsam das Boot, verhielten sich ruhig und achteten sehr auf die Wellen. Nach zwei Stunden auf dem Meer hatten sie die griechische Grenze erreicht und landeten auf einer griechischen Insel.

Europa
Nun waren sie in Europa. Auf der griechischen Insel mussten sie zwei Tage lang Müll aufsammeln und bekamen kaum etwas zu essen oder zu trinken. Nachdem sie bei der Polizei ordnungsgemäß gemeldet waren nahmen sie ein Schiff auf das griechische Festland. Von dort aus ging es direkt weiter. Sie fuhren mit dem Bus nach Albanien. Von dort aus zu Fuß über Serbien bis nach Ungarn. Dort legten sie alles ab und behielten das, was europäisch genug war. Kurz vor der ungarischen Grenze trennte sich die Gruppe. Sie mussten sich unauffällig verhalten und in der Menschenmasse praktisch untergehen. So waren sie einige Meter voneinander entfernt. Ayham war weiter vorne, Alaa und Mohamad weiter hinten. Alaa und Mohamad wurden von der ungarischen Polizei entdeckt und in ein Camp gesteckt. Ayham gelang die Flucht über Stacheldraht und Maisfeldern. Dann lief er viele Kilometer weg von der Grenze und wartete schließlich einen ganzen Tag auf seine Freunde. Währenddessen heckten Alaa und Mohamad den Plan aus, aus dem ungarischen Camp auszubrechen. Sie schnitten ihre Armbänder (Camp-Armbänder) durch und rannten vom Camp weg. An einer Tankstelle rief ein Mann sie zu sich und bot ihnen pro Kopf 250€ an, sie nach Österreich zu schleusen. Sie sagten zu und stiegen ein. Ayham versuchte zu diesem Zeitpunkt seine Freunde zu erreichen – aber sie waren im Ausland und ihr Netz zeigte kein Empfang. Nach langem Hin und Her überzeugte Ayham sich selbst, weiter zu fliehen. Am Straßenrand hielt ein Auto mit zwei Frauen an und bot ihm für ebenfalls 250€ an, ihn nach Österreich zu fahren. Er versuchte noch zu handeln, aber der Druck erwischt zu werden, war zu groß und nahm den Deal an. Alaa und Mohamad waren einen Tag früher in Österreich und fuhren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln irgendwie nach Trier. Sie wollten eigentlich nach Köln. Aber – es kam so wie es kam. Ayham erfuhr, dass Mohamad und Alaa in Trier waren und wollte nachkommen. Er war in München und kaufte sich ein ICE-Ticket nach Trier. Doch dann erhielt er einen Anruf von Abdullah, dass er unbedingt nach Köln kommen sollte – Alaa und Mohamad können nachgeholt werden. Also änderte Ayham sein Zugticket und fuhr nach Köln. In Köln traf er voller Freude auf Tarek und Abdullah. Einen Tag darauf holten Tarek und Ahmed Mohamad und Alaa in Trier ab. Alaa, Mohamad und Ayham gingen in die Zentrale Ausländerbehörde in Dortmund und stellten dort einen Antrag auf Asyl. Sie sind angekommen.
DRK Witten
Nun sind sie in Witten und werden medizinisch versorgt. So wurden Alaa und Ayham die Haare abrasiert, weil sie Läuse hatten. Weil sie gefroren hatten und keines der Spendenklamotten des DRK’s passte, hatten sich einige hörbehinderte zusammen etabliert und Kleider gespendet. Der gehörlosen Verband bergischen Land mit Christine Linnartz hat sich dieser Not gestellt und eine Initiative gestartet. Sie vernetzen sich mit dem DRK und versuchen weitestgehend zu unterstützen. Nun kommen sie auch einfach so zu Besuch. Wenn ihr Asylantrag anerkannt wird, werden sie weiter geschickt – sie hoffen, dass sie nach Köln geschickt werden. Denn dort sind ihre Freunde, Abdullah, Tarek, Mohammed und Ahmed.
