Menschen

Der Cyberguru: Dr. Oliver Rien

Dr. Oliver Rien spricht über das Nutzerverhalten im Internet, die bekanntesten Shitstorms, was die psychischen Folgen davon sind und was man dagegen unternehmen kann.

Sie selbst sind hörbehindert und teilen gleiche Erfahrungen mit anderen Hörbehinderten. Was sind die wesentlichsten Schwierigkeiten, denen Sie im Alltag begegnen?

Dr. Oliver Rien: Es sind hauptsächlich die alltäglichen Barrieren, die man als Hörbehinderter trotz der UN-BRK erlebt. Ich möchte dies anhand eines Beispiels exemplarisch erklären. Bei einer Behörde wies ich auf meine Schwerhörigkeit hin. Ich werde aufgefordert, im Warteraum Platz zu nehmen und werde dann aufgerufen. Ich wies noch mal auf meine Schwerhörigkeit hin. Da sagte man mir, ich werde persönlich abgeholt. Als ich dann mit der Sachbearbeiterin gesprochen hatte, wies ich auf die mangelnde Barrierefreiheit hin. Zur Antwort bekam ich, dass ich ja gut sprechen könne und bisher auch alles gut verstanden habe. Hier wurde deutlich, dass nach wie vor das gute Sprechen von hörbehinderten Menschen automatisch mit gutem Sprachverständnis im Hören gleichgesetzt wird.

Es gibt noch viele weitere Beispiele, die ich aufzählen kann. Oft wird deutlich, dass die Barrieren vor allem im Kopf und Herzen der Menschen bestehen. Allzuoft sind vage Informationen über Handicaps vorhanden, oder aber man kennt die Stärken von Menschen mit Handicap nicht. Es ist auch zu beobachten, dass der Kontakt mit Menschen, die ein Handicap haben, oft Unsicherheit und Ängste bei Nichtbehinderten auslösen. Hier wäre es wichtig, Ängste gegenüber Menschen mit Handicap in unserer Gesellschaft abzubauen.

1989 haben sie ihr Studium im Fach Psychologie begonnen und zeitgleich auch die Gebärdensprache gelernt. Was inspiriert Sie an diesem Fach besonders?

Dr. Rien: Psychologie habe ich studiert, weil ich merkte, dass ich mich gut in andere Menschen empathisch einfühlen kann. Ich hatte eine Lehrerin, die mich während meiner Abiturzeit sehr stark mit Literatur inspiriert hat. So entschied für mich, dass ich mich auf Hörbehinderte spezialisieren will.

Zuerst ging ich in den Hamburger Gehörlosen-Sportverein, um dort Gebärdensprache zu erlernen. Ich belegte die Kurse im Gebärdensprachzentrum in Hamburg und merkte, dass diese Sprache gut zu mir passt. Es hilft mir, eine entspannte Kommunikation als Hörbehinderter zu führen. Ich habe lange Basketball im Gehörlosenverein gespielt und dort die besonderen Sozialisation der Hörbehinderten erlebt sowie genossen. Auch im privaten Bereich hatte ich viele Kontakte mit hörbehinderten Menschen. Meine erste Ehefrau ist auch gehörlos, so dass auch die Gebärdensprache zur Familiensprache wurde und bis jetzt auch gelebt wird. Ich genieße die Kommunikation entspannt ohne den Hörstress, ohne etwas akustisch falsch zu verstehen oder das nicht zu bemerken. Gebärdensprache gibt mir Sicherheit korrekt zu kommunizieren.

Ab 1997 arbeiteten sie mit hörbehinderten Menschen auf verschiedenen Therapiegebieten zusammen. Was sind Ihre einprägsamsten Erfahrungen?

Dr. Rien: Es erschüttert mich immer noch, wenn ich erlebe, welche Folgen eine nicht funktionierende Kommunikation mit den eigenen Eltern hat. Da die überwiegende Mehrzahl der Eltern keine Gebärdensprache in der Kommunikation mit ihren hörbehinderten Kindern verwenden, ergeben sich oftmals Defizite. Diese befinden sich vor allem im sozialen, aber auch im emotionalen Bereich, insbesondere in der Empathiefähigkeit. Dies führt im späteren Leben oft zu Konflikten im Gehörlosenverein, in der Partnerschaft, in der Familie oder auch am Arbeitsplatz.
Das Tragische dabei ist, dass die Defizite keine primäre Folge der Hörbehinderung sind, sondern vermeidbar wären, indem eine funktionierende und gesicherte Kommunikation zwischen Kind und Eltern aufgebaut wird. Das funktioniert mit der Gebärdensprache. Leider ist es so, dass nach wie vor für hörbehinderte Menschen ein mangelhaftes psychologisches Versorgungsnetz in Deutschland besteht, So können sich hörbehinderte Menschen keine Hilfe bei Belastungen holen.

Was mich auch sehr belastet sind die zunehmenden sprachlosen Hörbehinderten. Das sind Kinder und Jugendliche, die mit einem Cochlea Implantat (CI) versorgt wurden, aber davon nicht profitieren konnten. Denen wurde auch keine Gebärdensprache angeboten oder der Widerstand gegen die Gebärdensprache war in der Familie zu groß. Dieser Personenkreis hat nun keinen funktionierenden Kommunikationskanal. Weder Hören und Verstehen mit dem CI ist möglich, noch ist Gebärdensprachkompetenz vorhanden. So landen diese CI-Träger oft in Klassen mit lernschwachen Schülern. Ich finde es traurig, dass man nicht selektieren kann, ist das kognitive Defizit eine Folge der fehlenden funktionierenden Kommunikation oder gibt es neben der Hörbehinderung noch ein anderes Handicap.

Was mich sehr beeindruckt ist die Kraft und die Stärke der Gebärdensprachgemeinschaft. Zum Beispiel das Kämpfen für ihre Rechte, das Nichtaufgeben des Kampfes um gesellschaftliche Teilhabe, die Spendenaktion für den Deutschen Gehörlosen-Bund (DGB) oder einfach der soziale Zusammenhalt. Leider wird der soziale Zusammenhalt durch die neuen Medien auch gefährdet. Was mich nach wie vor fasziniert: die Gebärdensprache und das Künstlerische, das sich zunehmend auch in der Gebärdensprache etabliert. Als Beispiel sei der DeafSlam genannt.

Sie haben das soziale und emotionale Kompetenztraining entwickelt. Was können Sie uns über dieses Training erzählen?

Dr. Rien: Ich habe das soziale und emotionale Kompetenztraining nicht entwickelt. Dieses gab es schon lange vorher im hörenden Bereich. Ich habe dies auf die Bedürfnisse hörbehinderter Menschen übertragen und angepasst.

Mir ging es vor allem darum, die Beispiele zu visualisieren und nachfühlbar zu machen. Deshalb sind die Seminare auch geprägt mit vielen Rollenspielen und Diskussionen aus dem persönlichen Leben. Mir ist wichtig, das Informationsdefizit in diesem Bereich durch die fehlende Kommunikation mit den Eltern auszugleichen. So ist die Direktheit in der Gebärdensprachkommunikation oftmals ein Defizit bei der Empathiefähigkeit.

Ein Beispiel: Zwei Gehörlose haben sich ungefähr 20 Jahre lang nicht gesehen und begegnen sich wieder. Die allererste Gebärde die kommt, lautet: «Boah! Bist du aber fett geworden». Dass dadurch der Gesprächspartner verletzt werden könnte und somit gleich zu Beginn einen Bruch in der Beziehungsaufnahme stattfindet, ist vielen Hörbehinderten nicht bewusst. Leider haben sie aber durch mangelnde Kommunikation mit ihren Eltern keine alternativen Gesprächsbeginnsformen gelernt. Da setzt mein Training an, indem ich darstelle, was löst es beim Gesprächspartner aus (Empathieübung) und welche alternative Gebärden gibt es (‹Soziale Kompetenz Gesprächsbeginn›).

Auf welche Fachgebiete haben sie sich noch spezialisiert?

Dr. Rien: Im Bereich Empowerment habe ich viele verschiedene Themen entwickelt. Diese sind auf die jeweiligen Bedürfnisse der Hörbehindertengruppen angepasst. So gestalte ich Seminare für Gebärdensprachnutzer anders als für lautsprachorientierte Hörbehinderte. Ebenso ist es mir wichtig, die Dienstleister für Hörbehinderte zu schulen. Das sind z.B Mitarbeiter des IFD, Pädagogen für Hörbehinderte oder Gebärdensprachdolmetscher. Ebenso habe ich Trainingsprogramme für Behörden, Arbeitskollegen, Dienstleister und Krankenhauspersonal im Umgang mit hörbehinderte Kunden entwickelt. Weitere Seminarangebote sind auf meiner Webseite zu entnehmen.

Sie haben sich auch mit Cybermobbing und dem Internet auseinandergesetzt. Welcher Entschluss brachte sie als Psychologen dazu, sich mit dem Thema zu befassen?

Dr. Rien: Das Internet und das soziale Netzwerk sind für hörbehinderte Menschen eine große Bereicherung. Zum einem kann der früher erfahrene Bildungsmangel ausgeglichen werden, zum anderen ist es leichter in Kontakt mit anderen hörbehinderten Freunden oder Familienmitglieden zu bleiben, weil er auf dem visuellen Weg stattfindet.

Ein enormer Gewinn, wenn man es mit früher chronologisch vergleicht: da blieb nur das Schreiben von Briefen, dann kam das Schreibtelefon, das Fax, die Mailkommunikation und nun haben wir permanent die Möglichkeit, erreichbar zu sein, egal wo wir sind. Das war früher für Hörbehinderte nicht möglich. Leider beinhaltet jeder Fortschritt auch Gefahren und Nachteile. Die letzten Shitstorms, besonders in Facebook, wo Existenzen gefährdet wurden, persönliche Beleidigungen bis hin zur Morddrohungen sich wiederfanden, haben mich bewegt, mich dem Thema zu beschäftigen. Auch bei Hörenden findet das statt. Aber die Wahrscheinlichkeit, das ich die Person kenne, ist sehr gering.

In der kleinen Gemeinschaft der Gebärdensprachnutzer, wo fast jeder jeden kennt, führt es schnell zu Stigmatisierung und Ausgrenzung. Auch ist es schwer, den schlechten Ruf wieder zu bereinigen. Von daher sind die Folgen in unserer Gemeinschaft dramatisch. Auch wird es immer mehr von hörbehinderten Patienten thematisiert und die psychosozialen Folgen sind ebenso dramatisch.

Wie beschreiben Sie persönlich das Internet?

Dr. Rien: Im positiven Sinne ist das Internet für mich eine unerschöpfliche Informationsquelle aus der ich die gewünschten Informationen entnehmen kann . Dies erleichtert den Alltag enorm. Auf deren anderen Seite dient das Internet der Selbstverwirklichung und der Selbstdarstellung, indem ich Gefühle, Gedanken, Fotos, Filme von mir poste. Ich habe jederzeit die Möglichkeit, für jeden verfügbar zu sein und jeden zu erreichen. Anderseits verliere ich immer mehr Privatsphäre, persönlichen Schutzraum, und es gibt einen gewissen Gruppendruck, alles mit jedem zu teilen, um Teil des sozialen Netzwerks zu sein. Es gibt die kriminelle Seite wie Phising und Teile des Darknet. So hat das Internet viele Vorteile, aber auch Nachteile für die Gesellschaft.

Wie beschreiben Sie die Entwicklung des Internet?

Dr. Rien: Die Frage ist, ob der Mensch noch über das Internet herrscht oder ob das Internet nicht mittlerweile den Menschen beherrscht. Wenn ich mich auf meinen Amazon-Account einlogge, bekomme ich zuerst Kaufempfehlungen von Produkten, die aufgrund meiner persönlichen Vorlieben, Suchparameter und vergangenen Bestellungen erstellt wurden. Man spricht auch vom gläsernen Menschen.

Ein weiterer Nachteil ist für mich zunehmend die soziale Entfremdung im persönlichen Kontakt. Immer wieder beobachtet man Menschen in Gruppen, wie während den Gesprächen permanent auf ihr Smartphone schauen, um wichtige Informationen nicht zu verpassen. Dies passiert auch schon bei Familienfeiern und teilweise auch am Arbeitsplatz. Im Zug oder in der U-Bahn haben wir früher noch miteinander eine Unterhaltung geführt oder ein Buch gelesen. Heute gucken alle auf ihr Smartphone.

Grafik: istockphoto

Fall 1: Bernd Hartmann

Am 26. April 2015 äußerte sich Bernd Hartmann in seinem privaten Facebook-Profil negativ über das Bundesteilhabegesetz. Seine Meinung lässt sich folgend zusammenfassen: «Gehörlose können arbeiten und sollen arbeiten gehen». Kurz darauf hat eine andere Facebook-Nutzerin sein Video heruntergeladen und anschließend auf ihr privates Profil hochgeladen. Das Video wurde massenhaft geteilt. Bernd Hartmann erntete negative Zeilen – sogar Todesdrohungen. Auch seine Frau wurde verbal angegriffen. Der Shitstorm dauerte über 3 Tage. Am 28. April 2015 äußerte sich Bernd Hartmann noch gegenüber hearZONE über den Shitstorm. Die Folgen? Hartmann, ein gehasster Name. Sein Ruf wurde geschädigt. Bernd löschte sein Video bereits am ersten Tag. Die andere Facebook-Nutzerin, die Bernds Video auf ihrem privaten Profil hochgeladen hatte und für den Shitstorm verantwortlich ist, löschte das Video am Nachmittag des 28. April 2015. Noch bis heute bleibt der Shitstorm in Erinnerung.

Wir reden mit Ihnen über bestimmte Fälle. Wir starten mit Bernd Hartmann. Wie beurteilen Sie diesen Shitstorm. Warum tendieren Menschen dazu, aufgrund einer anderen Meinung einen Menschen derart anzugreifen? Bitte Ihre fachliche Meinung dazu.

Dr. Rien: Vorweg möchte ich klarstellen, dass es keinen Unterschied zwischen hörbehinderten und hörenden Internetnutzern gibt. Ähnliche Fälle gibt es auch bei Hörenden. Für die Betrachtung des Falls müssen wir uns das Beispiel genau anschauen: Das Bundesteilhabegesetz ist ein sehr emotional besetztes Thema in der Hörbehindertengemeinschaft und führte im Vorfeld schon zu zahlreichen Konflikten im sozialen Netzwerk. Ich denke, das die Meinung von Herrn Hartmann als Kritik an die Gebärdensprachgemeinschaft verstanden wurde, dass diese nicht arbeiten wolle. Auch fühlt sich aktuell die Gemeinschaft durch das Bundesteilhabegesetz benachteiligt, so dass die Meinung von Herr Hartmann als Affront der Gemeinschaft missverstanden werden kann.

Wahrnehmung ist häufig selektiv. Das bedeutet, dass bestimmte Aussagen nicht mehr im Gesamtkontext gelesen und verstanden, sondern die einzelne Aussage isoliert wahrgenommen und nicht mehr interpretiert wird, was genau damit gemeint ist und was uns mitgeteilt werden soll.
Hinzu kommt die enorme Polarisierung durch den emotionalen Charakter des Themas. So wirkte die Aussage auf der emotionalen Ebene und wurde nicht mehr im sachlichem Kontext verstanden. Durch die Verbreitung wurden weitere Nutzer polarisiert. Es kam zu weiteren emotionalen Kommentaren und zur Eskalation, was in den Shitstorm und die Bedrohungen mündete. Zu Beginn wurde die Aussage von Herr Hartmann von der Nutzerin bewertet und dann geteilt, auch dies gehört zur Meinungsfreiheit. Die Frage hierbei bleibt: Warum hat die Nutzerin Herr Hartmann nicht persönlich unter vier Augen angeschrieben und welchen Gewinn hatte die Nutzerin durch das Posting? Der Gewinn ist die Rückmeldung und die Bestätigung durch die anderen NutzerInnen, evtl. positive Rückmeldungen für das Posting («Gefällt Mir»-Angaben) und man fühlt sich als produktiver Teil einer Gemeinschaft. Dies geschieht dann auf Kosten von Herr Hartmann, der dabei auf der Strecke bleibt.

Was verleitet Menschen dazu herablassende Zeilen zu posten? Sogar Morddrohungen?

Dr. Rien: Der Nachteil des Internets ist es, dass man durch die gleiche Meinung der anderen Nutzer und das ‹Liken› gestärkt wird und nicht mehr als einzelnes Individuum auftritt. So ändert sich das Verhalten in Gruppen. Die Bindung an der Gruppe führt zu einer Entriegelung des individuellen Gewissens und man wird enthemmter, zumal man der Meinung ist, man befindet sich auf der richtigen Seite. Dies gibt einem die augenscheinliche Legitimation, offen seine Gedanken zu äußern und vermeintlichen Schutz vor Strafverfolgung. Nur so lassen sich Aussagen wie, «die müsste man vergasen»,in Diskussionen zum Thema Flüchtlinge erklären, welche ja den Strafbestand der Volksverhetzung erfüllen und trotzdem offen gepostet werden.

Was passiert mit einem Menschen psychisch, der im Internet angegriffen wird?

Dr. Rien: Früher hatten wir ähnliche Belastungen beim Vorgang von Klatsch und Tratsch in der Gebärdensprachgemeinschaft beobachtet. Es erfolgt eine seelische Verletzung im Zusammenhang mit einer großen Hilflosigkeit. Es bestand kaum die Möglichkeit gegen den Verursacher vorzugehen. Der Folge waren in der Regel sozialer Rückzug, infolge dessen Vereinsamung und Depression.

Durch das Internet potenzieren sich die Folgen. Wir haben es dann nicht mit einer Person zu tun, sondern mit einer ganzen Gruppe, welche die Aussagen mit «Gefällt Mir»-Angaben bewertet, verstärkt und teilt. War das früher bei einem Klatsch und Tratsch primär regional auf den Gehörlosenverein begrenzt, ist das im Internet national und sogar international verbreitet.

Zudem ist es schriftlich, was eine viel nachhaltigere Wirkung hat, als wenn es über Mundpropaganda weitergetragen wird. Durch die Polarisierung und die Emotionalität ist kaum noch eine Versachlichung des Themas möglich. Aufgrund der resultierende Stigmatisierung und der kleinen Gemeinschaft findet eine massivere Ausgrenzung wegen der Verbreitung im sozialen Netzwerk statt. Und was einmal im Netz isz, bleibt auch im Netz und kann später anhand von Screenshots wieder gezeigt oder geladen werden. Folgen sind auch hier sozialer Rückzug, psychische Belastung bis hin zur Depression.

Fall 2: Stefan Raab

In der Sendung «TV Total» vom 27. Januar 2015 (ab Minute 3:25) machte sich Stefan Raab angeblich über den amerikanischen Gebärdensprachdolmetscher Jonathan Lamberton lustig. Der Dolmetscher aus New York ist für seine Mimik sehr bekannt. In einem Video dolmetschte er New York’s Bürgermeister De Blasio in einer Rede über einen Schneesturm. «Der Bürgermeister warnte die Bürger mit dramatischen Worten. Meine Botschaft an alle New Yorker: Bereiten Sie sich auf etwas Schlimmes vor, das wir noch nicht erlebt haben! Der Bürgermeister warnte, es könne der schlimmste Schneesturm werden, die das Land je erlebt hat», dolmetschte Jonathan Lamberton. Stefan Raab machte sich von der Szene Verwendung und zeigte in seiner Sendung «TV Total» eine Gangster-Szene damit. «Wir kommen jetzt zu New York und in New York ist Shitstorm. Ja. Der Bürgermeister von New York, De Blasio, so heisst er, hat eine Ansprache gehalten und dass es noch andere verstehen, gab es einen Gebärdendolmetscher. Und da hat er sich die coolste Sau aus New York City rausgesucht», äusserte sich Raab in seiner Sendung. Dabei rappte Raab im Rhytmus: «Sie werden Frieren und Schnee schippen. Frieren, frieren, richtig kalt aber ich sage einfach Fuck You!». Zugleich zeigte er den Mittelfinger. Raab wollte eigentlich seine Begeisterung für den Dolmetscher zeigen. Aufgrund fehlenden Untertiteln wurde das von vielen Hörbehinderten missverstanden.  ProSieben erntete daraufhin massenweise negative Zeilen. Der Shitstorm auf Facebook um Raab dauerte 3 Tage bis zum 30. Januar 2015.

Bei Stefan Raab drehte sich der Shitstorm um ein Missverständnis. Trotzdem erhielt der Sender negative Zeilen von hörbehinderten Menschen. Wie bewerten Sie diesen Fall?

Dr. Rien: Die Gebärdensprachgemeinschaft ist aufgrund der jahrelangen Diskriminierung durch das Verbot der Gebärdensprache sehr sensibilisiert. Auch bestehen weiterhin zahlreiche Barrieren im alltäglichen Leben. Dies begünstigt auch eine Achtsamkeit und Empfindlichkeit, was weitere Abwertungen betrifft. Zuerst wurde durch die vermeintlichen Verspottung der Gebärdensprache, wie eben beschrieben, zuerst die emotionale Seite, das Gefühl von Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Wut oder Traurigkeit angesprochen. So tragen dann Missverständnisse zur Eskalation bei. Als das Missverständnis dann zunehmend aufgeklärt und von anderen Nutzern gepostet wurde, also eine Versachlichung des Themas eingetreten ist, verloren viele Internetnutzer das Interesse. Das braucht dann seine Zeit.

Einerseits finde ich es gut, das Hörbehinderte achtsam sind bezüglich Diskriminierungen und Benachteiligungen, sich stark machen und sich wehren. Andererseits kann eine zu starke Emotionalisierung dazu führen, das man vorschnell reagiert.

Warum reagieren Internetnutzer oft vorschnell, anstatt die Sache vorher genauer zu überprüfen?

Dr. Rien: Häufig wird der Mensch auf der emotionalen Ebene angesprochen und reagiert sofort. Gerade in den sozialen Netzwerken findet ein direktes Agieren und Reagieren wie in einem Gespräch statt. Es geht auch darum wer zuerst gepostet und seine Meinung mitgeteilt hat. Man ist dann auch wieder auf der Jagd nach den «Gefällt Mir»-Angaben. Wie in einem Gespräch und gerade bei Emotionen, wird oft erst gesprochen bzw. mit Händen geplaudert und dann nachgedacht. Diesen Mechanismus finden wir auch beim Posten von Inhalten. Wenn dann die Gruppe durch «Gefällt Mir»-Angaben und weiteren Kommentaren das Posting bestärkt, wird es wohl schon richtig sein. Warum soll ich dies dann in Frage stellen. Es würde ja bedeuten, das ich mich möglicherweise gegen meine Gruppe stelle.

Hätte es Untertitel gegeben, wäre ihrer Meinung nach kein Shitstorm entstanden? Oder wäre der Auftritt von Stefan Raab trotzdem negativ aufgefasst worden?

Dr. Rien: Das hängt jetzt ein wenig von der Qualität der Untertitel in einer Live-Show ab. Diese sind ja relativ schnell und in verschiedenen Zusammenhängen. Hier wird sicherlich auch die jeweilige Lesekompetenz oder die Fähigkeit, gut mit Untertitel klarzukommen, eine Rolle spielen. Auf jeden Fall hätte es die Möglichkeit gegeben, das Missverständnis aufzuklären. Andere hätten sich vielleicht an dem Mittelfinger gestört und darüber aufgeregt. Aber für einen Shitstorm braucht es ja nur eine Person, die es missversteht und falsch im sozialen Netzwerk darstellt. Da reicht es, wenn andere Nutzer, welche die Sendung gar nicht gesehen haben, dies unmöglich finden und die Darstellung des Nutzers, der dies am Anfang postete, positiv bewerten und teilen sowie weiter kommentieren. Dann entsteht ein Shitstorm. Von daher hätten auch Untertitel womöglich einen Shitstorm nicht verhindert.

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privat/zVg

Fall 3: Bettwäsche-Füllung

Am Samstagmorgen, den 5. März 2016, eine unzufriedene Kundin bei ErWiiON’s Creative Home tat ihre Fassungslosigkeit in einem Facebook-Video kund: Sie entdeckte gebrauchte Bettwäsche als Innenfutter in Schaal und Tasche. Eine weitere unzufriedene Kundin teilte ihren Schock unmittelbar später ebenfalls im Netz. Das Kritikvideo wurde hundertfach geteilt. Nach 9.00 Uhr brach der Shitstorm aus. «Wir wurden betrogen», so der Tenor vieler Facebook-Nutzer. Kurz vor 11.00 Uhr veröffentlichte Raluca Ghindea ihre Stellungnahme in einem Facebook-Video und entschuldigte sich für den Vorfall. Zudem schilderte sie, dass die Bettwäsche vor der Verarbeitung gründlich gereinigt wurde. Wenige Stunden später nahmen andere selbstständige Hörbehinderte sie in Schutz. Die Folgen: ihr geschäftlicher Ruf wurde geschädigt. Die Inhaberin verkündete, Ende 2016, mit dem Geschäft aufzuhören. Bisher sind keine genauen Gründe und Informationen verfügbar. Im November 2016 erhielt sie einen großen Ansturm von positiven Bewertungen auf Facebook.

Ähnlich wie bei der Bernd Hartmann geht der Angriff auf eine Person sehr schnell los. Beim dritten Fall handelt es sich um eine geschäftliche Angelegenheit. Warum fällt es Internetnutzern so leicht, selbstständig erwerbende Personen derart anzugreifen?

Dr. Rien: Es ist legitim, die Unzufriedenheit über eine Dienstleistung oder über eine Ware mitzuteilen. Das ist mein Recht als Kunde und sichert auch die Qualität der Dienstleistung. Im Bereich der Hörenden würde so eine Kritik keine große Wirkung haben, da diese in der Masse untergeht. Unter Hörbehinderten entfaltet so eine Kritik eine viel stärkere Wirkung, da die Gemeinschaft durch ihre Größe sehr überschaubar ist.

Die unzufriedene Kundin hat sehr emotional und wenig sachlich gebärdet. Damit hat sie beim Posting die anderen Nutzer auf der emotionalen Ebene angesprochen. Leider wurde dies dementsprechend weiter verbreitet und es kam zur Eskalation. Auffällig war, dass zahlreiche Nutzer, die die Dienstleistung in weiteren Postings negativ bewertet haben, keine Kunden waren, das heißt, die Meinung einfach übernommen haben.

Hier zeigte sich der schon beschriebene Effekt, Teil eine Gruppe zu sein und eine kollektive Meinung zu vertreten, was eine selbstkritische Reflexion nicht mehr oder nur schwer zulässt. Zum anderen finden wir gerade im Zusammenhang von selbstständigen hörbehinderten Dienstleister einen anderen Effekt vor. Der sogenannte Krabbenkorbeffekt oder die Krabbentheorie. Selbstständige hörbehinderte Dienstleister waren bisher nicht so bekannt oder wurden jetzt vermehrt wahrgenommen. Das führt zudem auch zu Neid und Unsicherheit sowie zu einer genaueren, kritischen Betrachtung der Geschäftsfelder von selbstständigen Hörbehinderten.

Negative Sachen werden schneller wahrgenommen und geteilt. Beim Krabbenkorbeffekt ist es so, dass der Fischer im Boot keinen Deckel auf den Korb voller Krabben machen muss. Sobald eine Krabbe herausklettert, klammern sich die anderen Krabben mit der Schere ans Bein und ziehen diese zurück in den Korb. Übertragen auf die Hörbehindertengemeinschaft bedeutet dies, sobald jemand erfolgreich ist, kommen kritische Stimmen, so dass er gebremst wird. Dies bedeutet, man freut sich nicht und plaudert nicht darüber, wie toll wie er das gemacht hat, sondern sucht nach Fehlern und Kritikpunkten. So wird dieser dann gebremst. Es verleiht jemandem auch ein Gefühl von Macht, mit einem Post Einfluss auf das Leben anderer zu nehmen. Das finden wir häufig bei Hörbehinderten vor, da diese sich aufgrund der Kommunikationshindernisse und der Barrieren in unserer Gesellschaft oft hilflos und ohnmächtig fühlen. Sie haben nun die Möglichkeit, auch mal aus dieser Rolle herauszukommen. Diese Faktoren spielen insgesamt eine wichtige Rolle bei der Bewertung der Frage.

Bewerten Sie die Verwendung von gebrauchter Bettwäsche als Innenfutter negativ oder aufgrund des Umweltschutzes positiv?

Dr. Rien: Es ist schon interessant, wie ein so kleines Detail so große Wellen schlagen konnte. Wir tragen oft Kleidung, die unter Ausbeutung der ärmeren Länder, teilweise unter Kinderarbeit und lebensgefährlichen Bedingungen hergestellt wird. Oft sind diese Kleidungsstücke chemisch belastet. Da ist die Frage, ob das Innenfutter aus Bettwäsche besteht oder nicht, fast nebensächlich.

Sicherlich wäre es sinnvoller gewesen, das Problem über einen persönlichen E-Mail-Austausch zu lösen. Die Kundin war ja bisher mit dem Produkt zufrieden gewesen und hatte bis dahin keinerlei Beanstandungen. Von daher hat die Bettwäsche ihren Sinn als Füllung oder Isolierung erfüllt. Aus meiner Sicht war eher das Gefühl der Täuschung im Vordergrund, aber die Funktion hatte die Bettwäsche bereits erfüllt. Das eine Firma versucht durch Verwendung bestimmter Materialien dem Umsatz und die Gewinnspanne zu steigern, ist eigentlich normal.

Der geschäftliche Ruf wurde durch den Shitstorm geschädigt. Welche Maßnahmen können selbstständig erwerbende Opfer eines solchen Shitstorms einleiten?

Dr. Rien: Das ist in der Hörbehindertengemeinschaft sehr schwierig. Wichtig wäre es, zufriedene Kunden zu bitten, positives zu posten als Gegengewicht der negativen Meinung. Das wäre vor allem gleich zu Beginn unbedingt wichtig, damit die Möglichkeit besteht, zwei Meinungen zu bewerten. Dazu ist es wichtig, eine Gegendarstellung zu veröffentlichen. Wichtig ist eine sachliche Darstellung bzw. Erklärung des Sachverhaltes und nicht eine emotionale Verteidigung oder Gegenangriffe. Das führt nur zur Eskalation.

Andauerndes Entschuldigen kann dann als Bestätigung der Vorwürfe bewertet werden und die Angriffe bestärken oder den Anklägern recht geben. Sollte geschäftsschädigendes Verhalten vorhanden sein, Rufmord oder Drohungen gegen Leib und Leben, wäre der strafrechtliche Weg zu gehen und Anzeige zu erstatten. Es ist sehr wichtig, die Seiten über Screenshots zu speichern. Man kann sich an den Betreiber der Netzwerke wenden, was aber schwierig gestaltet. Das Hauptproblem ist leider, dass es nach einem Shitstorm in der kleinen Gemeinschaft der Hörbehinderten sehr schwer ist, wieder Fuß zu fassen, das heißt, wieder eine positive Wahrnehmung der eigenen Person zu erreichen.

Warum denken Internetnutzer kaum über die Konsequenzen ihres Handelns nach?

Dr. Rien: Wie bereits beschrieben sind die meisten Postings emotionaler Natur, was das Nachdenken über Konsequenzen vorerst ausschließt. Da man sich von der positiven Bewertung und den ähnlichen Kommentaren in der Gruppe gestärkt fühlt, entsteht das Gefühl, dass alle so denken und man selber nichts Unrechtes tut. Hinzu kommt auch Unkenntnis über die strafrechtliche Relevanz bestimmter Aussagen im Internet. Durch die vermeintliche räumliche Distanz des fehlenden Gegenübers entsteht auch eine Enthemmung. Man traut sich im Internet was zu schreiben, was man in der Person direkt, in der Gruppe, in der Familie oder am Arbeitsplatz so nicht sagen würde.

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YouTube/Screenshot

Fall 4: Maximilian Wüster

Der Moderator Adam Wolke aka Maximilian Wüster (hörend) vom Internet-Format «Massengeschmack.TV» veröffentlichte im Rahmen seiner Sendung «netzprediger TV» in seinem YouTube-Kanal «Maximilian Wüster» 3 Videoclips, in diesen er behauptete, im Herbst 2016 in Darmstadt beim staatlichen Prüfungsamt  für Gebärdensprachdolmetscher als staatlich geprüfter Gebärdensprachdolmetscher seine Prüfung abzulegen. In den Videos versuchte er gesangslose Musik mit rohen Eiern, Plüschtiere und nichtsaussagenden Gesten zu übersetzen. Am 31. Mai 2016 wurden die Videos von Hörbehinderten entdeckt – daraufhin folgte der große Shitstorm. Wüster erntete negative Zeilen – gar Todesdrohungen. Am 8. Juli 2016 wurde hearZONE in seine Sendung «netzprediger» für ein 35-minütiges Interview eingeladen. Das Interview verlief sehr kritisch – mit wenig Verständnis für Menschen mit Hörbehinderung. Die Idee von Adam Wolke ging nicht auf. Er wollte eine Figur erschaffen, über diese Leute ähnlich lachen können. Im interview ging es letzendlich um die Frage, ob Satire über Hörbehinderte bzw. Gebärdensprache gerechtfertigt ist oder nicht. Noch nach dem Interview sieht der Online-Troll Adam Wolke seine Tat gerechtfertigt. In seinem YouTube-Kanal wurde mehrfach angekündigt, dass ein Aufklärungsvideo mit Gebärdensprachübersetzung kommen sollte. Datiert auf den 18. August 2016. Noch bis heute ist kein Aufklärungsvideo erschienen, was den Anschein bringt, dass Maximilian Wüster aka Adam Wolke durch seine Satire nur Werbung für seine Sendung «netzprediger» machen wollte.

Interessant ist es mit Maximilian Wüster. Wenn Sie sich die Videos auf YouTube ansehen, wie ist ihre Interpretation?

Dr. Rien: Ich persönlich finde es albern. Es regt mich aber nicht auf. Satire oder Kunst hat große Freiheit in Deutschland. Es dient zur Selbstdarstellung und wenn es Herr Wüster glücklich macht, soll er das so machen. Interessanter ist aber die Diskussion unter dem Video zwischen Hörbehinderten und Hörenden, wo die Hörbehinderten teilweise sehr emotional, beleidigend oder mit Drohungen ihre Gebärdensprache verteidigen und von den Hörenden als humoros bezeichnet sowie wegen der Schwäche in der Schriftsprache angegriffen werden. Da wäre ein Kommentar wie: «Das entspricht nicht unserer Gebärdensprache, aber Herr Wüster macht es Spaß. Schön für ihn», viel souveräner gewesen und hätte nicht die Gegenkommentare hervorgerufen. So ist der Versuch, die Gebärdensprache zu verteidigen leider schiefgelaufen und man hat kein Verständnis von der hörenden Seite erhalten.

Wie können gehörlose ZuschauerInnen anhand der Videos feststellen, dass kein Gesang existiert und somit auch kein Songtext übersetzt werden kann? Woran erkennen Sie, dass Maximilian Wüster eine Satire ist?

Dr. Rien: Zahlreiche Hörbehinderte haben in der Regel ein Restgehör, mit denen sie Laute wahrnehmen können. Hätten Sie eventuell die Musik wahrgenommen, hätte man gemerkt, dass die Gesten im Takt der Musik produziert wurden und sich an keinen Text orientiert. Auch ist das Ablesen vom Mund sehr schwierig. Aber die ganze Aufmachung mit der Blume, der Küche und den Gegenständen zeigt eigentlich: der nimmt sich nicht ernst.

Da aber viele sofort emotional reagiert und die anderen Aspekte sachlich nicht eingeordnet haben, war es sicherlich schwer, dies als Satire zu erfassen, zu bewerten und souverän damit umzugehen. Jeder ernstzunehmender Gebärdensprachdolmetscher weiß, das so ein Auftritt seine Dienstleistung beschädigen, wenn nicht, gar unmöglich machen würde.

Ist Satire über Gruppen von Menschen mit Behinderung gerechtfertigt, die bereits genug Probleme im Alltag haben?

Dr. Rien: Es gibt zahlreiche Künstler mit Behinderung, welche Witze, Comics, Cartoons über ihre besondere Situation machen. Auch unter Hörbehinderten gibt es diese Künstler, z.B. Marco Lipski und Susanne Genc, Roxanna oder Paul Dinkel. Von daher ist Witz und Satire Bestandteil von Kultur und Gesellschaft. Wenn man über sich lachen kann, zeigt das Stärke und Selbstbewusstsein. Ich bin der Meinung, das eine Gemeinschaft mit Selbstbewusstsein und Stolz auf der Gebärdensprache auch Satire über sich aushalten kann, auch wenn diese von Hörenden kommt.
Aus meiner Sicht wäre es Diskriminierung, wenn man über Behinderte keine Witze und Satire machen dürfte, weil man diese Gruppe zu etwas Besonderem macht und dadurch ausgrenzt. Es gibt auch Grenzen von Satire, wie wir es in dem Fall Böhmermann und Erdogan erlebt haben oder wenn Behindertenwitze erniedrigend und abwertend sind. Manchmal ist schwierig zu erkennen, wo ist es Satire, Witz oder Humor und wo fängt Beleidigung an.

Wie bewerten Sie die Reaktion einiger Internetnutzer, die Todesdrohungen an Maximilian Wüster richten?

Dr. Rien: Dafür habe ich kein Verständnis. Dies lässt sich nur mit der emotionalen Betroffenheit erklären und sicherlich kommen in so einer Drohung auch biografische, in der Vergangenheit erlebte Verletzungen oder negative Gefühle zum tragen. Dies berechtigt aber nicht zu Morddrohungen und zudem ist es ja auch strafrechtlich relevant. Die Verhältnismäßigkeit zwischen dem Inhalt des Videos und der Reaktion stimmt aus meiner Sicht auch nicht, da der Eindruck entstehen könnte, Hörbehinderte seien allgemein gefährlich und haben mangelnde  Impulskontrolle, was ja nicht zutrifft. So entsteht ein falsches Bild von der Gemeinschaft der Hörbehinderten. Viel negativer ist hierbei auch das Bild, das von Hörbehinderten durch solche Äußerungen an Außenstehende vermittelt wird. Der Imageschaden ist hierbei für die Gebärdensprachgemeinschaft groß, da der Eindruck entstehen könnte, Hörbehinderte seien gefährlich und haben mangelnde Impulskontrolle.

Fall 5: «Wir brauchen Untertitel»

Im Februar 2016 protestierte die Gruppe «Wir brauchen Untertitel» auf Facebook gegen ProSieben aufgrund fehlenden Untertiteln in der 11. Staffel von «Germany’s Next Topmodel». Tausende machten in den Social-Media-Kanälen Luft gegen den TV-Sender, bis schließlich  in der Sendung ab der dritten Folge Untertitel ausgestrahlt wurde. Daraufhin machte das WBU-Team eine Aktion auf Facebook: die Nutzer sollen den Hashtag #wirbrauchenuntertitel in ihr Profilbild integrieren. Über 10.000 Anhänger fand die Aktionsgruppe «Wir brauchen Untertitel» binnen weniger Tagen. Seither setzt sich die Aktionsgruppe für mehr Untertitel im Fernsehen ein und zählt zu einer der stärksten Online-Aktivisten in der Hörbehindertenszene.

Die Straße demonstriert heute im Internet. Im Vergleich: Warum ist das Demonstrieren über das Internet effektiver? Welche Gefahren gibt es dabei?

Dr. Rien: Bei Demonstrationen oder Aktionen im Internet erreicht man eine wesentlich größere Masse an Personen. Auch könnte hier ein größerer Imageschaden für den Dienstleister in diesem Fall dem TV-Sender entstehen. Somit hat man ein höheres Druckmittel, um seine Interessen durchzusetzen. Während auf einer Demonstration vielleicht 1000-2000 Personen mitgehen würden in einen begrenzten Teil einer Stadt in Deutschland, kann man über das Internet deutschlandweit viele Menschen mobilisieren und ist präsent.
Zum einem wäre die Wahrscheinlichkeit, dass die Medien über die Demonstration auf der Straße berichten, relativ gering, zum anderen wird immer weniger im Fernsehen konsumiert und immer mehr über das Internet. Die Gefahr ist natürlich, dass so eine Aktion im Internet durch unangemessene Beiträge zum Beispiel Drohungen oder Beleidigungen gefährdet wird. Dies kann man nur schlecht kontrollieren und wenig darauf Einfluss nehmen. Von daher braucht man aufmerksame Administratoren bzw. Leiter solcher Aktionen. Eine weitere Gefahr für Hörbehinderte mit eingeschränkter Schriftsprachkompetenz ist die erhöhte Gefahr von Missverständnissen und daraus entstehende Eskalationen.

Die Aktionsgruppe «Wir brauchen Untertitel» hat mehrere Erfolge zu verbuchen. Befürworten Sie die Handlungen der Aktionsgruppe? Warum?

Dr. Rien: Ja, ich befürworte die Handlungen der Aktionsgruppe, weil diese zum Teil emotional aber auch sehr sachlich geführt wurde. Es fanden sich kaum Beleidigungen oder Abwertungen in den Postings. Die Videos waren plausibel und nachvollziehbar. Somit konnte die Zielgruppe der Proteste, der TV-Sender, erreicht werden. Dies führte dann zu einer Annäherung. Auch wurden Untertitel eingefügt. Hierbei wird deutlich, dass eine sachliche Diskussion mit angemessenen Emotionen von einem souveränen Team geführt zum Erfolg führen kann. Das Ziel ist immer, sein Gegenüber vom Anliegen zu überzeugen und zum Freund zu machen. Nicht durch Beleidigungen und Drohungen zum Feind. Damit erreicht man nichts. Das ist der Gruppe sehr gut gelungen. Es haben sich auch zahlreiche Hörende solidarisch erklärt und das ist ein toller Gewinn.

Sollten im Internet nach mehr Protestgruppen entstehen, die für eine bestimmte Sache kämpfen?

Dr. Rien: Ich hatte zu Beginn gesagt, dass das Internet gute und schlechten Seiten hat. Die sachlich geführten Protestgruppen sind mit ihrer weiten Streuung und der Erreichbarkeit ein Gewinn des Internets und ermutigen ander Nutzer, sich für ihr Anliegen einzusetzen. Solange diese Proteste produktiv und sachlich sind, begrüße ich diese Form des Protestes. Durch den möglichen Imageschaden der Adressaten des Protestes hat man durch die weite Streuung im Netz ein gutes Druckmittel.

Welche Unterschiede stellen Sie zwischen hörenden und hörbehinderten Internetnutzern fest?

Dr. Rien: In der Nutzung selbst gibt es kaum Unterschiede. Die sozialen Netzwerke werden aufgrund der Visualität und der damit verbundenen Barrierefreiheit von Hörbehinderten bewusster und stärker genutzt. Durch das Internet hat es sich für Hörbehinderte einen wesentlich besseren Zugang zur Bildung, allgemeinen Bildung sowie zu gesellschaftspolitischen Themen ergeben.

So gibt es beispielsweise auf der Internetwebseite des RTWH Aachen barrierefreies E-Learning zu Themen wie Mathematik oder Deutsch in Gebärdensprache. Dienstleister oder Behörden stellen ihre Dienstleistungen barrierefrei in Gebärdensprache auf ihrer Webseite vor. Das sind Vorteile, die überwiegend für Hörbehinderte relevant sind. So ist das Internet als Instrument der Teilhabe für Menschen mit Behinderung sicherlich was Besonderes, was vielen hörenden Menschen nicht bewusst ist.

Was sind Ihre Erfahrungen mit Klienten, die Opfer von Cybermobbing wurden?

Dr. Rien: Die Auswirkungen auf das Opfer sind fatal. Durch die Stigmatisierung in Verbindung mit der weiten Verbreitung im Netz sowie der kleinen Gemeinschaft der Gebärdensprachnutzer bzw. das der Hörbehinderten, ist es schwierig, unbeschädigt aus dieser Situation zu kommen. Der Makel oder die negative Meinung bleibt an dem Opfer haften. Oftmals entsteht in der Gemeinschaft eine negative Dynamik, die zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führen kann bzw. zum sozialen Rückzug. Habe ich keine gute Freunde, die sich für mich stark machen, sind oft Vereinsamung und Depression sowie psychosomatische Beschwerden und Krankheitsbilder die Folge.

Oft zweifelt man dann an sich selbst und fängt an, die Fehler bei sich zu suchen. Spätestens an dieser Stelle sollte professionelle Hilfe wie zum Beispiel Psychologen oder Psychotherapeuten in Anspruch genommen werden. Leider gibt es wenig Beratungsstellen für Hörbehinderte, die sich auf das Gebiet Cybermobbing spezialisiert haben.

Was können Sie denn LeserInnen bezüglich der Nutzung des Internets mit auf den Weg geben?

Dr. Rien: Ich würde mir das Unterrichtsfach Medienpädagogik an Schulen für Hörbehinderte wünschen. Dieses Seminar wäre auch für hörbehinderte Erwachsene sinnvoll, da man da lernt, mit den Gefahren des Internets umzugehen und sorgfältig im Internet zu surfen sowie die sozialen Netzwerke zu nutzen. Hier sehe ich einen großen Bedarf.

Die einfache Regel ist das Sprichwort: «Was du nicht willst was man dir tut, das füge keinem anderen zu». Dies bedeutet, wenn du respektvoll behandelt werden möchtest, sei respektvoll zu andere. Wenn du nicht beleidigt werden möchtest, beleidige andere nicht. Respektiere die Meinung und Gefühle der anderen Nutzer. Das wünschst du dir von anderen auch.

Es gibt hier kein richtig oder falsch, sondern das Internet lebt auch von der Vielfältigkeit der verschiedenen Meinungen und Gefühle der Nutzer. Diskutiere hierbei sachlich und Emotionen sind auch erlaubt, solange diese wertschätzend sind. Wenn ein Thema dich emotional aufwühlt oder sehr betroffen macht, das Internet mal beiseite legen, durchatmen und zu einen späteren Zeitpunkt antworten, wenn man sich beruhigt hat. Das Wichtigste ist aber: das Internet vergisst nie! Alles was du schreibst, zeigt auch wer und wie du bist. Möchtest du als wertschätzend, sachlich und positiv oder möchtest du alles negativ, beleidigend und bedrohend wahrgenommen werden? Es liegt an dir selber, ein positives Bild von dir im Internet zu vermitteln.

Können Opfer von Cybermobbing auch bei Ihnen Rat aufsuchen?

Dr. Rien: Ich möchte hier gerne auf meine selbstständigen Kollegen, die gebärdensprachkompetenden Psychologen und Psychotherapeuten hinweisen, die ihnen eine Beratung bzw. Therapie anbieten können. Die Liste ist im Taubenschlag zu finden. Im Einzelfall kann man sich auch an mich wenden, wobei eine Beratung über diese Entfernung schwierig ist. Gerne biete ich aber Schulungen von Multiplikatoren an, die den Betroffenen vor Ort helfen können.

Was möchten Sie zum Schluß den LeserInnen noch ausrichten?

Dr. Rien: Ich möchte die LeserInnen bitten, das Internet mit mir gemeinsam zu einem besseren Ort für Hörbehinderte zu verwandeln, in denen man sich wohlfühlt und keine Angst haben braucht, dass man gemobbt wird. Dazu gehört auch mal die Courage zu haben, in Shitstorms eine andere Meinung zu vertreten, sachlich Stellung zu beziehen und somit zur Deeskalation beizutragen.

www.oliver-rien.de

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