Menschen

«Bilingualität öffnete mir selbst viele Türen»

Die 23-jährige Lisa Obermeier beschäftigt sich intensiv mit der Elternarbeit in der bilingualen Frühförderung. Sie ist hörend und identifiziert sich selbst als halb-gebärdensprachlich. Im Gespräch gibt sie uns starke Argumente die für Bilingualität sprechen.

Lisa, du bist hörend, wie bist du mit der Hörbehindertenszene und Gebärdensprache in Kontakt gekommen?

Lisa Obermeier: Das war eigentlich schon im Kindheitsalter so, dass ich Kontakt mit der Gebärdensprachgemeinschaft hatte. Rückblickend betrachtet war mir das gar nicht so bewusst. Die Brückenbauer hierzu waren meine Grosseltern. Denn ich hatte ja auch hörbehinderte Urgrosseltern, die stark mit ihrer Gemeinschaft vernetzt waren. An den Geburtstagen, die meine Uroma immer gross feierte, war auch ihre ganze Gemeinschaft da. Ich erinnere mich noch an einen Geburtstag, da war ich noch sehr klein: Eine riesige Tafel, an der nur Hörbehinderte sassen. Das hat mich schon damals beeindruckt, wie diese alte Frau mit schickem Dutt – so hatte ich meine Uroma immer vor Augen – so aufblühen kann und mit Gesicht und Händen so authentisch kommunizieren konnte.

Da habe ich ein ganz anderes Bild von meiner Uroma bekommen, weil sie unter uns hörenden Familienmitglieder doch eher bescheiden und zurückhaltend war. Diese Szene hat mich echt umgehauen.

Du hast die Deutsche Gebärdensprache gelernt. Welchen Gewinn können hörende Menschen von dieser Sprache erzielen?

Ich meine – wir haben ja zwei deutsche Sprachen und beide sind ein wichtiger Faktor für Inklusion. Das ist vielen Hörenden nicht bewusst. Trotzdem bemerke ich ein grosses Interesse an der DGS. Einen Gebärdensprachkurs zu besuchen ist aber eine andere Nummer, als nach dem Kurs direkt in den Gebärdensprachtreff zu gehen und einfach mal lustig drauf los zu gebärden. Das ist aber der wesentliche Punkt: Die Sprache kann nur in Kontakt mit der Sprachgemeinschaft wirklich gelernt werden. Ich kann von mir behaupten, dass mich die Gebärdensprache stärker gemacht hat. Es war für mich eine wahnsinnige Überwindung zum Gebärdensprachtreff zu gehen und mit Muttersprachlern in Kontakt zu kommen.

Ich finde der Zugang zur Gebärdensprache hat mich offener für Unbekanntes gemacht. Ich kann auf andere Menschen besser zu gehen, habe mehr Geduld und auch Mut für neue Kommunikationsstiuationen. Ich gehe da mittlerweile mit dem Gedanken ran: «Irgendwie werden wir schon einen gemeinsamen Weg finden». Diese Einstellung habe ich natürlich auch dem Vertrauensvorschuss vieler hörbehinderter Menschen zu verdanken, mit denen ich vor allem in meiner Anfangszeit «Gebärdensprachkontakt» hatte. Ich wurde immer wieder motiviert weiterzumachen. Dafür bin ich den Menschen der Gemeinschaft sehr dankbar.

Gebärdensprache macht nicht nur weltoffener, sondern auch empathischer und toleranter. Das sind drei Komponenten, von denen Hörende unheimlich profitieren können.

Was fasziniert bzw. bewegt dich an der Gemeinschaft am meisten?

Da muss ich wieder auf meine Uroma zurückkommen: Die Stärke und der Stolz, der sich aus der Gebärdensprachgemeinschaft trotz aller Unterdrückungen heraus entwickelt hat, das finde ich Wahnsinn. Meine Urgrosseltern haben während des Zweiten Weltkrieges fünf Kinder bekommen. Trotz Verfolgung und der Angst vor Zwangssterilisation. Ohne deren Willen und Selbstbewusstsein würde es mich heute gar nicht geben. Das ist das Stückchen gebärdensprachkulturelle Geschichte, die ich, wie ich finde, in mir trage und auch stolz drauf bin.

Die Gebärdensprachgemeinschaft ist für mich der Spiegel, der uns vorhält, wie sehr der Mensch Kommunikation braucht und liebt. Wie herrlich ich es finde, in einem Raum voller Gebärdensprachnutzer Innen zu kommen und förmlich spüre, wie sehr sie den Austausch lieben und die Verbindung durch die gemeinsame Sprache sofort hergestellt ist. Das finde ich selbst jetzt immer noch bewegend.

Du hast eine Abschlussarbeit zum Thema «Kultursensible Beratung zum Cochlea-Implantat für gehörlose und hochgradig schwerhörige Eltern gehörlos geborener Kinder» geschrieben. Was kannst Du uns darüber erzählen?

Ich habe mein Praxissemester im Rahmen des Sozialarbeitsstudiums in der bimodal-bilingualen Frühförderung gemacht. Da habe ich sehr viel mit Kindern mit Cochlea-Implantat-Versorgung gearbeitet, sowie eine hörbehinderte Kollegin gehabt, mit der ich mich fachlich natürlich auch ausgetauscht habe. Kinder mit CI mit hörenden Eltern waren mir zu dieser Zeit ja auch einleuchtend. Jedoch gab es auch Deaf-Coda’s mit CI-Versorgung. Das kam mir völlig absurd vor (lacht). Ein Thema, das mir bis zu meinem letzten Semester auch keine Ruhe liess. Ich fragte mich, warum hörbehinderte Eltern ihren hörbehinderten Eltern ein CI gaben. Jedoch wollte ich natürlich auch die professionelle Seite beleuchten und untersuchen, wie professionelle Stellen, die zum CI beraten (können), ihre Beratung für hörbehinderte Eltern gestalten.

Wie bist du zu diesem Thema gekommen?

Das ist wirklich durch meine Arbeit in der Frühförderung gekommen und durch den Austausch mit der Kollegin. Mir war schon klar, dass das CI in der Gebärdensprachgemeinschaft nicht gross gefeiert wurde. Da auch hörbehinderte Eltern hörbehinderter Kinder sich nicht mehr vor der Frage nach dem CI in der heutigen Zeit schützen können und Auseinandersetzung von verschiedenen Seiten oft eingefordert wird, habe ich mich entschieden eine Arbeit zu schreiben, aus der ein Beratungskonzept hervorgeht, in dem die Gebärdensprachkultur in der Beratung zum CI Beachtung findet und vor allem bilingual beraten wird.

Eine Vielzahl hörbehinderter Menschen haben eine negative Einstellung gegenüber dem Cochlea-Implantat. Wie erklärst du uns diesen Schwerpunkt? Wie gehen wir damit um?

Ich nehme das so wahr, dass Hörbehinderte nichts gegen das Cochlea Implantat an sich haben. Dann würden sich hörbehinderte Eltern sicher nicht für ein CI bei ihrem Kind entscheiden, wenn sie wüssten, dass sie ihnen schaden. Die meisten Eltern erhoffen sich mehr Chancen für ihre Kinder, um zum Beispiel in der Mehrheitsgesellschaft besser zurecht zu kommen. Dabei ist die kulturelle Treue zur Gemeinschaft natürlich trotzdem da.

Es ist vielmehr der Umgang mit dem Cochlea-Implantat und der audistische Fokus, mit dem Ärzte zum Beispiel beraten. Die Kultur und die Gebärdensprache werden oft ignoriert und das kultursensible Verständnis, das ich ja auch in meiner Abschlussarbeit untersucht habe, ist bei vielen Stellen einfach nicht vorhanden. Das ist ja fatal, wenn wir uns vorstellen, dass es mit dem CI lediglich um Korrekturversuche bezüglich der Hörbehinderung geht. Dann haben hörende Eltern immer ein Bild von ihrem Kind vor Augen, das sein Selbstbild irgendwie um die Hörbehinderung herum konstruieren muss, um so «gut wie möglich hörend zu sein». Das ist doch schade.

Wichtig ist es die hörenden Eltern mit hörbehinderten Kindern abzuholen. Dazu brauchen sie aber den Kontakt zur Gebärdensprachgemeinschaft, um zu sehen, dass Gebärdensprachlich-sein nicht das Ende der Welt bedeutet und ihr Kind hörbehindert genauso glücklich sein kann, wie andere Kinder auch. Einerseits müssen wir als Sozialarbeiter, Pädagogen, Lehrer usw. die Möglichkeit herstellen, Begegnungen zu schaffen, andererseits ist hier aber auch die Gemeinschaft gefragt: Los, holt euch eure potentiellen Gemeinschaftsmitglieder und zwar so früh wie möglich!

Aber vergesst nicht eure hörenden Eltern mitzunehmen. Laut- und Gebärdensprache kann zusammen funktionieren. Ihr müsst es den hörenden Eltern nur zeigen. Ihr seid diejenigen, die die Ängste nehmen können. Mein schlaues Geschwätz hilft da doch nicht (lacht).

Du studierst Sonder- und Integrationspädagogik (Master) an der Universität Erfurt. Möchtest du danach im Bereich der Hörbehindertenpädagogik arbeiten? Warum?

Ja, auf jeden Fall. Ich habe in dieser Arbeit meinen absoluten Traumberuf gefunden. Die Soziale Arbeit ist definitiv mein Fall. Mit dem aufbauenden Master habe ich eine gute Kombination aus der Sozialarbeit/Sozialpädagogik, sowie aus förderpädagogischen Themen wie die der Frühförderung, besondere Beratungssituationen wie die Beratung in DGS oder auch dem Schriftspracherwerb von hörbehinderten Kindern. Damit beschäftige ich mich im Studium gerade, weil ich auch das sehr spannend finde.
Hinzukommend liebe ich die Gebärdensprache, ich begeistere mich für die Themen, die die Gemeinschaft berühren. Egal ob Kleinkinder, Jugendliche, Eltern oder Flüchtlinge. Jeder Bereich ist in sich so vielfältig und birgt so viele Potentiale.

Du beschäftigst dich viel mit der Thematik «Bilingualität». Warum ist Bilingualität so wichtig? Hast du uns starke Argumente zur Hand?

Bilingualität ist der Schlüssel zur Bildung und zu einem selbstbestimmten Leben. Nur mit dem Verständnis von beiden deutschen Sprachen werden hörbehinderte Kinder neugierig, beginnen sich und anderen Fragen zu stellen und werden sich so selbstständig weiterentwickeln. Egal ob über die Wissensweitergabe von Peers, Erwachsenen oder durch Bücher.

Das schöne Zitat des britischen Philosophen Ludwig Wittgenstein «Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt» macht so ziemlich das deutlich, was ich damit ausdrücken möchte: Stell dir vor deine eigene Sprache ist ein Werkzeugkasten. Umso mehr Werkzeuge du darin hast, desto höhere und schönere Werke kannst du damit bauen. Deshalb ist Gebärdensprache und Schriftsprache so wichtig.

Was müssen hörende Eltern von hörbehinderten Kindern erkennen, um ihr Kind bilingual zu erziehen?

Manchmal werde ich gefragt, warum es für hörende Eltern so schlimm ist, ein hörbehindertes Kind zu bekommen. Sie müssen dann ja ‚nur‘ eine neue Sprache lernen. Nunja, ich sag dann immer: In welcher Sprache kannst du deinem liebsten Menschen am besten ausdrücken, was du für ihn empfindest? Natürlich in der Muttersprache. Die gemeinsame Sprache gibt es dann nicht. Ich kann schon verstehen, dass die Diagnose für Eltern bitter sein kann.

Wie könnte man deiner Meinung nach Bilingualität in Schulen integrieren, um eine inklusive Bildung umzusetzen?

Ich bin keine Lehrerin und das wird jetzt vielleicht verwundern, aber ich bin auch keine Verfechterin von Inklusion. Ich finde es schwierig – ganz allgemein – Förderschulen zu schliessen und die Kinder dann überfordertem Schulpersonal zu überlassen. Das ist zwar konsequent, aber gewinnbringend für niemanden.

Bilingualität im inklusiven Schulsetting funktioniert durch das Team Teaching. Das haben ja auch Studien gezeigt. Eine hörbehinderte, sowie eine hörende Lehrkraft unterrichten die Klasse aus Kindern mit unterschiedlichem Hörstatus. Die hörende Lehrkraft vermittelt Schrift- und Lautsprache und repräsentiert die Mehrheitskultur. Die hörbehinderte Lehrkraft steht für die DGS und ist für die Visualisierung zuständig. So hat jedes Kind die Option sich ein Sprachvorbild auszusuchen. Trotzdem finde ich Förderschulen für hörbehinderte Kinder wichtig. Ich verstehe sie nicht nur als Bildungsstätte, sondern auch als ein Stück Kulturgut der Gebärdensprachgemeinschaft.

Du identifizierst dich persönlich als halb- gebärdensprachlich. Was hat dazu geführt, welche Erkenntnisse haben dich zu dieser Einstellung bewegt und welchen Gewinn erzielst du mit dieser Erkenntnis?

Halb-gebärdensprachlich ist da passend, ja (lacht). Ich verwende die Deutsche Gebärdensprache mittlerweile im Alltag genauso selbstverständlich, wie die deutsche Lautsprache. Sie ist ein Teil von mir geworden und damit unheimlich bereichernd. Auch die Grenzen meiner Sprache(n) sind die Grenzen meiner Welt. Ich habe mir durch meine Bilingualtität damit selbst viele Türen geöffnet und möchte dies auch anderen Menschen ermöglichen, so wie dies mir ermöglicht wurde.

Wie möchtest du dich in der Zukunft noch für hörbehinderte Menschen engagieren? Gibt es konkrete Ziele?

Ich habe so viele Ideen und Wünsche für die Zukunft (lacht). Erstmal liegt der Fokus ganz klar auf der Deaf Refugees Welcome Hessen Initiative. Seit Juni 2016 bin ich offiziell Flüchtlingsbeauftragte des Landesverbandes der Gehörlosen Hessen e.V. und arbeite mich gerade selbst intensiver ein. Wenn ich erstmal im Berufsleben angekommen bin, möchte ich schon gerne noch die Ausbildung zur Gebärdensprachdolmetscherin machen. Schon vor dem Bachelorstudium habe ich diesen Wunsch gehabt und sehe in den beiden Berufsbildern (Sozialarbeit und Gebärdensprachdolmetschen) eine gute Kombination.

Dann habe ich in meinem Meer voller Gedanken auch noch ein paar Inseln mit Träumen, die ich vielleicht mal ansteuern möchte. Träume sind ja auch wichtig, um weiterzumachen.

Möchtest du deinen Leserinnen und Lesern noch etwas ausrichten?

Alle sagten immer «Das geht nicht». Dann kam einer, der wusste das nicht und hat es einfach gemacht. Ich glaube ich kann diesen Spruch als mein Lebensmotto bezeichnen. Die Grenzen unserer Möglichkeiten stecken wir uns selbst. Es gibt immer den richtigen Weg. Und wenn wir dort noch nicht angekommen sind, sind wir gerade auf dem Weg dorthin. Bleibt also optimistisch und neugierig. Denn das ist der Schlüssel zu dieser Welt.

Auch interessant