Nadine Schmidt von Panikattacken geplagt
Nadine Schmidt wurde am 12. November 1981 mit gutem Gehör in eine hörende Familie hineingeboren. Als Baby hatte sie eine Lungen- und Mittelohrentzündung. Durch die Einnahme von Tabletten wurde sie hörbehindert. Ihre Mutter war zu der Zeit selbst noch jung und mit dem Thema Hörbehinderung schnell überfordert, so dass sie Nadine dann einer Pflegefamilie übergab. «Meine Mutter konnte keine Gebärdensprache und wusste nicht, wie sie mit mir umgehen muss», sagt Nadine. «Als sie es nicht mehr alleine schaffen konnte, kam ich in die Pflegefamilie.»
Pflegeeltern
Die Pflegeeltern sind beide Sozialpädagogen und haben selbst zwei leibliche Kinder (Zwillinge) und neben Nadine noch eine weitere Pflegetochter (Name nur der Redaktion bekannt). Insgesamt vier Kinder lebten in dieser Familie. Eine gute Zeit sollte für Nadine anbrechen, stattdessen ging sie durch die Hölle.
Mobbing in der Schule
Zunächst besuchte sie den Kindergarten für Schwerhörige, weil ihre Sprachkompetenz ausreichend war. Die Grundschule besuchte sie in der Schwerhörigenschule in Hamburg. Zu ihrer Schulzeit wurden Gehörlose und Schwerhörige noch getrennt unterrichtet. «Ich finde es toll, dass die Schule jetzt zusammengeführt wurde», kommentiert Nadine.
Auch berichtet Nadine von Mobbingerfahrungen in der Schule. Dort stieß sie oft auf Ablehnung und hatte wenig Unterstützung. «Ich habe sehr darunter gelitten», erzählt sie. «Ich hatte oft Angst, das Klassenzimmer zu betreten, weil ich wusste, wenn ich etwas falsch mache, wartet zuhause Prügel auf mich.»
Zwangsausbildung
Nach der Schule begann sie ihre Ausbildung im Theodor-Schäfer-Bildungswerk in Husum im Bereich Hauswirtschaft. Die Berufswahl wurde Nadine von ihren Pflegeeltern aufgedrängt. Eigentlich wollte Nadine nach Amerika auswandern, doch diese Idee wurde von den Pflegeeltern schnell aus ihrem Kopf vertrieben. So war die Debatte über die Berufswahl schnell abgeschlossen und Nadine begann 1999 die Hauswirtschaftsausbildung im Theodor-Schäfer-Bildungswerk.
Ihren deutsch-russischen Freund lernte sie 1997 im Dorf, wo sie wohnte, kennen. Als Nadine ihre Ausbildung in Husum startete, war das Paar schon drei Jahre zusammen. Immer an den Wochenenden fuhr Nadine zu ihrem Freund nach Hause. Nach dem ersten Ausbildungsjahr wurde Nadine schwanger und musste die Ausbildung abbrechen. «Ich war froh darüber, dass diese Ausbildung beendet war, weil dieser Beruf einfach nicht zu mir passte», so Nadine überzeugt.
Ihre Schwangerschaft
Sie ist vor ihren Pflegeeltern geflohen und ging zu ihrer leiblichen Mutter nach Niedersachsen zurück. Ihre leibliche Mutter kümmerte sich um sie, um-sorgte sie und gab ihr für eine Weile eine Bleibe, bis Nadine wenig später eine eigene Wohnung bezog. «Der Kontakt zur leiblichen Mutter war schon immer vorhanden», ergänzt Nadine. «Was zu der Zeit, als meine Mutter mich den Pflegeeltern übergab, passiert ist, habe ich nie so richtig verstanden.»
Die Depression tritt auf
Während ihrer ersten Schwangerschaft zeigten sich erste Anzeichen einer Depression. Ihre Gefühlslage verschlimmerte sich stetig. Aber als ihre Tochter Kristin zur Welt kam, wünschte sich Nadine ein zweites Kind. Ein gutes halbes Jahr später war sie erneut schwanger mit ihrem heutigen Sohn Nico. Die Depressionen haben dann rasch nachgelassen, und sie fühlte sich wieder besser – bis sie zum dritten Mal schwanger wurde und eine Fehlgeburt hatte. «Meine Fehlgeburt wurde im dritten Monat ausgeschabt», so Nadine traurig. Die depressiven Symptome verstärkten sich, ohne dass ihr das bewusst war.
Fehlgeburt
Anfangs war sie über ihre Fehlgeburt traurig. Doch später schätzte sie sich mit zwei gesunden Kindern glücklich, denn sie war bereits genug gefordert. Die Depressionen nahm sie kaum wahr. «Ich habe mir selbst immer gesagt, ich bin stark und alles ist gut», erzählt Nadine. Doch wenige Monate später überraschte sie eine Panikattacke.

Ihre erste Panikattacke
Als sie mit ihren Kindern zum Arzt fuhr, fühlte sich Nadine bereits unwohl. Die Kinder waren aufgeregt und laut. Beim Arzt angekommen, lief sie die Treppe hoch und auf einmal wurde ihr schwarz vor Augen und sie war in Schweiß gebadet. In wenigen Minuten hatte sie heftige körperliche Reaktionen: Schweißausbruch, Herzrasen, Zittern, Kurzatmigkeit, Übelkeit und eine unglaublich große unerklärliche Angst. Zunächst konnte Nadine den Auslöser für ihre Panikattacke nicht erkennen. «Ich dachte, das sei eine einmalige Sache und besuchte den Ort einfach nicht mehr», sagt Nadine. «Für eine Weile war alles wieder in Ordnung.»
Ihre Vergangenheit – Die Ursache?
Ein ungutes Gefühl kam wieder und wieder auf. Sie schlief oft am Tage, während ihre Kinder sich selbst überlassen waren. Die Depressionen verschwanden aber nicht, sondern traten noch häufiger und stärker auf. Beim Einkauf erlitt sie weitere Panikattacken. Die Angstzustände wurden schlimmer, bis sie sich kaum noch aus dem Haus wagte. «Ich hatte rund um die Uhr Angstzustände», berichtet sie. «Ich habe Ärzte besucht und alle waren der Meinung, mit mir ist alles in Ordnung. Bis ein Neurologe 2003 in Norderstedt mich erstmals gefragt hat, wie meine Kindheit aussah.»
Nadine war verwirrt. Sie konnte nicht entschlüsseln, warum der Neurologe das von ihr wissen wollte. Sie erklärt, dass sie dachte, ihre Kindheit habe mit den Angstzuständen nichts zu tun. «Ich habe die früheren Angelegenheiten verdrängt und vergessen», erinnert sie sich. «Der Arzt erklärte dann, dass die Seele wie eine Festplatte funktioniert, die alles speichert und verarbeitet. Wenn es noch nicht verarbeitet wurde, kann das fatale Folgen haben.» Als der Arzt ihre Geschichte anhörte, empfahl er ihr eine Therapie zu machen. Nadine dachte, der Arzt mache Scherze und ging nach Hause, rappelte sich auf im Glauben, alles würde wieder besser werden.
Das Jugendamt
Ihre Idee ging nicht auf. Immer mehr isolierte sie sich zu Hause, schaffte es nicht mehr, einzukaufen, hielt sich von Bussen fern und ihr Leben wurde stark beeinträchtigt. «Mein Leben brach in mir zusammen. Ich konnte mich auch nicht mehr voll um meine Kinder kümmern», so Nadine bedrückt. Sie erschien an wichtigen Terminen nicht mehr in der Kita. Da endlich schaltete die Kita das Jugendamt ein.
Das Jugendamt kam zu Nadine nach Hause. In der Wohnung lagen die Windeln durcheinander, kaum gereinigt, Chaos herrrschte. Nadine bettelte das Jugendamt an, ihr zu helfen. «Keiner glaubte mir wirklich, was mit mir los ist», meint Nadine. «Das Jugendamt hat mir dann aber Hoffnung geschenkt.»
Im ersten Moment wollte Nadine ihre Geschichte nicht erzählen, weil sie nicht erneut enttäuscht werden wollte. Sie sprang über ihren Schatten und erzählte, was es mit ihr auf sich hat. Danach wollte das Jugendamt helfen und schlug ihr einen klinischen Aufenthalt vor, mit der Bedingung, dass Nadine ihre Kinder vorübergehend in eine Pflegefamilie geben muss. Ein Dilemma für Nadine. «Ich war mit der Idee, meine Kinder in eine Pflegefamilie zu geben, aufgrund meinen früheren Erfahrungen absolut nicht einverstanden», sagt Nadine. «Um mir selbst zu helfen, beschloss ich jedoch, den Vorschlag anzunehmen. Die Pflegefamilie wollte ich aber vorher gründlich kennenlernen, um sicherzugehen, dass meine Kinder gut aufgehoben sind.»
Die jüdische Pflegefamilie
Nadine lernte eine jüdische Pflegefamilie kennen. Anfangs war sie skeptisch, weil sie mit der Religion kaum vertraut war. Die potenziellen Pflegeeltern hatten schon zwei erwachsene Kinder, die Nadine ebenfalls kennenlernen durfte. Die erwachsenen Kinder hinterließen bei Nadine einen positiven Eindruck. So konnte Nadine’s Angst, dass ihren Kindern dasselbe zustoßen könnte, was ihr selbst widerfahren ist, abgebaut werden. «Als ich die Pflegefamilie kennenlernte, waren für mich keine Probleme erkennbar. Ich entschied mich dann, die Kinder der jüdischen Pflegefamilie zu übergeben», ergänzt sie.
Falsche Entscheidung?
2003 übergab sie ihre Kinder der Pflegefamilie. Anfangs, als sie sich von ihren Kindern langsam trennen musste, weinte sie viel und besuchte ihre Kinder oft. Je schlechter es ihr dann ging, desto weniger kam sie dazu, ihre Kinder zu besuchen und distanzierte sich langsam von ihnen. Vom Vater beider Kinder, dem Exfreund, erhielt Nadine negative Zeilen zu ihrer Entscheidung. Auch die Familie von ihrem Exfreund vertrat die Meinung, dass Nadine eine schlechte und faule Mutter sei. «Mein Exfreund verstand nicht, was mit mir los war», sagt Nadine. «Er hat das immer wieder ausgeblendet.»
In der Gehörlosenwelt dachten Nadine’s Freunde schnell was Falsches: das Jugendamt habe ihr die Kinder zwangsweise weggenommen, weil sie eine schlechte Mutter sei. Dies erschwerte Nadine’s Ankommen in der Gehörlosenwelt. Doch was ihre Mitmenschen interpretierten, entsprach keiner Wahrheit: «Ich habe die Kinder freiwillig abgegeben, weil ich aufgrund meiner Krankheit nicht in der Lage gewesen bin, die Kinder zu erziehen. Meine Kinder sollen mich nicht leiden sehen.»
Bestätigung von Männern
Danach war sie 2003 für zwei Monate in der Klinik Lengerich für Hörgeschädigte, mit dem Glauben, danach würde alles besser werden. Als sie wieder nach Hause kam, hatte sie immer noch ihre Angstzustände und arbeitete kontinuierlich daran, ihre alten Geschichten, die für sie noch immer eine Belastung sind, langsam zu verarbeiten. Nadine fing an, Bestätigung zu suchen, indem sie Männer über das Internet kennenlernte und im Videochat ihren Körper voller Stolz präsentierte. «Ich habe geglaubt, wenn ich mich präsentiere, würde ich einen Freund gewinnen», erzählt Nadine. «Das war ein großer Fehler. Warum ich das tat, hängt mit meinen Erfahrungen aus der früheren Pflegefamilie zusammen.»
2006 ging sie wieder für einen Monat in die Klinik. 2008 begann sie eine weitere Therapie und nahm regelmäßig Medikamente ein. Sie lernte, dass das Suchen nach Bestätigung von Männern ihr nicht weiterhilft. Langsam konnte sich Nadine wieder aufrappeln und es wendete sich zum Guten zu. Das Bewusstsein über ihre Angstzustände wurde immer klarer und sie konnte die störenden Bausteine in ihrer Seele langsam abbauen und ihre Probleme bewältigen.
Was ist mit Nadine passiert?
Doch was war damals wirklich passiert, als Nadine in der Pflegefamilie lebte? Was hat ihr Leben derart beeinträchtigt? Nadine erzählt offen. In ihrer damaligen Pflegefamilie wurde sie oft vom Pflegevater geschlagen. Die Pflegefamilie gab Nadine auch immer die Schuld dafür, dass ihre leibliche Mutter sie weggegeben habe. Auch wurde sie oft bestraft.
«Mir wurden immer Vorwürfe gemacht und mein Verhalten wurde kritisiert», meint sie. «Wie ich mich wirklich fühlte, haben sie nie bewusst wahrgenommen. Ich war das schwarze Schaf der Familie, der Zeigefinger war stets auf mich gerichtet.» Nadine zögert kurz beim Erzählen und beschließt, es zu sagen: «Mein Pflegevater hat mich sexuell missbraucht. Er machte Nacktfotos von mir. Die Pflegeschwester hat das mitbekommen.» Seine leiblichen Kinder verschonte er. Dieses Fehlverhalten verursachte in Nadine’s Leben enorme Schwierigkeiten und zeichnete sie für ihr Leben lang. «2008 haben ich und meine Pflegeschwester unseren Pflegevater angezeigt. Seine Strafe hat er erhalten. Darüber bin ich froh», ergänzt Nadine. Mehr wollte sie dazu nicht erzählen.
Von der Vergangenheit geprägt
Sicher ist, dass Nadine’s Vergangenheit und die Erfahrungen, die sie durchmachen musste, für ihren heutigen Zustand verantwortlich sind. Sie konnte einige Auslöser für ihre Angstzustände ausfindig machen und einige auch bereits verarbeiten. Sie traut sich seitdem wieder mehr zu. 2015 zog sie dann nach Bad Oldesloe in die Nähe ihrer Kinder. Vorher wohnte sie in Hamburg, wo sie in der Menschenmasse schnell unter Druck und Stress geriet.
«In Bad Oldesloe ist es ruhiger und ich kann meine Kinder aufwachsen sehen», freut sich Nadine. Mit der Pflegefamilie ihrer Kinder und ihrer leiblichen Mutter pflegt sie guten Kontakt. Den Kontakt zur Pflegefamilie, wo Nadine aufgewachsen ist, hat sie vor vielen Jahren abgebrochen.
Der Weg zur Besserung
Heute ist sie erwerbsunfähig – eigentlich schon seit 13 Jahren. «Ich habe immer noch große Hoffnung, dass die Zukunft besser wird», zeigt sich Nadine optimistisch. «Ich versuche mich so aufzubauen, dass ich ohne Panikattacken, Depression und Angst leben kann. Ich versuche meine Grenzen zu überschreiten und dauerhaft auszuweiten, damit es mir stetig besser geht.»
Die 35-jährige Nadine steckt sich große Ziele. Sie kann inzwischen wieder raus, einkaufen gehen und Freunde treffen. Auch wünscht sie sich einen vertrauensvollen Partner, der ihr Liebe, Geborgenheit und Stärke schenken kann. Ihre 16-jährige Tochter Kristin und ihr 14-jähriger Sohn Nico wohnen heute bei ihrem Exfreund, dem leiblichen Vater ihrer Kinder. Nadine besucht sie regelmäßig. Die jüdische Pflegefamilie wanderte 2005 aus. Danach kamen die Kinder in andere Pflegefamilien, 4 Jahre in das Kinderheim in Bergedorf, bis sie schließlich vor zwei Jahren in Bad Oldesloe bei ihrem Vater einziehen durften. Heute fühlt sich Nadine besser, als noch vor wenigen Jahren.
Amerikanischer Traum
Ihre Angstzustände sind noch nicht ganz abgebaut. Manchmal wird sie noch rückfällig, aber sie kämpft weiter. Bevor sie ihren größten Traum nachgehen kann, muss sich ihre gesundheitliche Lage bessern. Ihren Traum, nach Amerika zu gehen, hat sie noch heute im Hinterkopf. Sie möchte in Amerika einmal Urlaub in Florida und Hollywood machen. Die Begeisterung für Amerika kommt davon, dass sie die Kultur gerne kennenlernen möchte.
«Ich versuche mein Leben besser zu gestalten, meine Träume wahrzunehmen, gesund abzunehmen, aktiv zu werden und mehr unter Menschen zu sein», schließt Nadine Schmidt das Gespräch ab.