Technik

Der Mann hinter AVA: Thibault Duchemin

Die App «Ava» (Audio Visual Accessibility) sorgte im November 2016 mit einem Werbespot auf der Facebook-Seite «Product Hunt» in der DACH-Region für großen Aufruhr. Das am 13. November 2014 gestartete Crowdfunding auf Indiegogo mit der App «Transcense» gab bereits den ersten Einblick in die bald erscheinende App «Ava».

Mit 43,559 Dollar konnte das Fundingziel mit 62% Überfinanzierung erreicht werden. So ging es mit Transcense in die Entwicklungsphase. Das damalige vorgestellte Projekt auf Indiegogo zeigte, wie gesprochene Sprache in Echtzeit transkribiert wird. Über zwei Jahre war es still um Transcense, bis am 17. November 2016 die App «Ava» lanciert wurde.

Weltweit sorgte die Nichterscheinung im App- und Google Play Store in vielen Ländern, auch in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, für große Hektik. Die App ist auch heute nur in ausgewählten Ländern wie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten verfügbar. Doch es gibt einen Weg, die App trotzdem auf das eigene Smartphone zu laden.

Wer es geschafft hatte, die App auf seinem Smartphone zum Laufen zu bringen, wurde mit vielen Fragen in Kommentaren und Privatnachrichten bombardiert: «Kannst du mir zeigen, wie du Ava bekommen hast?». Auch der Geschäftsführer von hearZONE sah sich im vergangenen November einem heftigen Shitstorm auf Facebook (hZ #36) ausgesetzt, als er bekannt gab, dass das englisch-
sprachige Interface auch in Deutsch transkribiert.

Was es mit Ava auf sich hat und warum AVA in den deutschsprachigen Ländern bisher nicht an den Start ging, erzählt Thibault Duchemin, CEO und Founder von Ava im Gespräch mit hearZONE.

Du bist als einziger Hörender (CODA) in einer hörbehinderten Familie aufgewachsen. Wie beschreibst du diese Erfahrung?
Thibault: Es ist eine besondere Erfahrung, aber in vielen Punkten vergleichbar zu Kindern, die in bikulturellen Familien aufwachsen. Im kulturellen Sinne bin ich hörbehindert, jedoch kann ich hören.Genau diese Mischung von Identitäten führt zu einem starken Wunsch nach Zusammenführung beider Welten, wo man in der Lage sein wird, ohne Einschränkungen miteinander zu kommunizieren.

Als CODA hast du miterlebt, mit welchen Barrieren deine Familie kämpfen musste. Was war die eindrücklichste Situation, die dich bewegt hat?
Thibault: Ich bin mir nicht sicher, ob es auf die französischen Wurzeln oder die Gebärdensprachgemeinschaft zurückzuführen ist. Meine Eltern mussten oft für ihre Rechte kämpfen. Dies erlebte ich als Kind oft. Beim Familienabendessen habe ich damals unzählige Geschichten über die tägliche Frustration, die einem als hörbehinderte Person in einer hörenden Gesellschaft immer wieder begegnen, gehört.

Die bemerkenswerteste Errungenschaft, sage ich mal, war die konstante Tatkraft meiner Eltern, mich und meine Schwester «wie auch bei hörenden Familien» zu erziehen. Genau damit waren sie erfolgreich. Ihren Kinder alles beizubringen, wie es auch Eltern normal hörender Kinder tun.
Ein Ereignis ist mir in Erinnerung geblieben: Als meine Familie im Jahre 2005 für die Anerkennung der Gebärdensprache demonstrierte, war ich knapp 7 Jahre alt. Doch ist dieses einer meiner stärksten Kindheitserinnerungen.

Eines Tages bist du auf eine Idee gekommen: Transcense. Was war der Auslöser?
Thibault: Ich kehrte aus Indien zurück, wo ich eine gewaltige Eingebung hatte. Da ich mich für Unternehmungen interessierte, die den gesellschaftlichen Fortschritt mitgestalten, und ich eine treibende Kraft sein wollte, stellte ich mir diese richtungsweisende Frage: «Was macht dich so wütend, dass du 10 Jahre aufwenden könntest, dir eine reale Lösung zu einem komplexen Gesellschaftsproblem auszudenken?» Ich verspürte sogleich eine Frustration als Bruder, als ich in den USA meine Schwester besuchte. Meine Schwester versuchte dort als Anwältin Fuß in der hörenden Welt zu fassen. Ich glaubte, sie würde sich immer mit hörenden Mitarbeitern herumschlagen müssen und sich ‹einfügen›. Wie kann es so schwer sein, diese zwei Welten zusammenzubringen? Das war der Beginn von Transcense. Ich konnte keinen Grund gegen diese Idee finden. Ich lag für zwei Stunden konzentriert nachdenkend da. Dann entschied ich mich: Ok, ich tue es.

Für eine Idee braucht es viel Vorarbeit. Was waren die ersten Gedankengänge von Transcense?
Thibault: In gewisser Hinsicht war sie keine frische Idee. Sie war eine über 20 Jahre abgelagerte Idee, weil alles mit einem einzigen Bedürfnis, Gruppengespräche barrierefrei zu machen, begann. Es gab so viele Kommunikationsprobleme, so dass ich nicht eindeutig wusste, was deren Ursache war.

Die wichtigste Aufgabe war eine Person zu finden, die die offenen Probleme verringern würde. Es war einfach zu kalkulieren: Hörbehinderte machen 5% der Weltbevölkerung aus. Heutzutage kosten barrierefreie Dienstleistungen 100 Dollar pro Stunde. Es gibt eine große Anzahl an nicht-barrierefreien Konversationen, die es nicht wert sind, 100 Dollars pro Stunde zu bezahlen. Der potentielle Wert ist hoch, aber was hart ist, ist das richtige Produkt zu finden: Ein vollkommen neues Kommunikationserlebnis.

Wer sind deine Projektpartner und wie konnten sie zur Idee beitragen?
Thibault: Ich gründete Ava mit zwei unglaublichen und doch unterschiedlichen Mitgründern. Skinner aus Taiwan ist selbst hörbehindert, nicht gebärdensprachlich und ist unser CTO. Pieter aus den Niederlanden ist hörend, erlernte die Gebärdensprache in nur 3 Monaten. Die Idee ist jetzt ein Produkt, und beide machen es täglich großartiger.

Transcense startete im Herbst 2014 ein Crowdfunding auf Indiegogo. Das Fundingziel wurde mit 43,559 US-Dollar erreicht. Wie beschreibst du das Gefühl, volle Unterstützung von deiner Zielgruppe zu erhalten?
Thibault: Ohne sie wären wir nicht hier. Diese frühe Finanzierung gestattete es uns, die erste Version von Ava herzustellen, die richtige Beta-Test Gemeinschaft zu haben, und Geldmittel zu beschaffen, die später notwendig sind, um ein größeres Team aufzubauen.

Fast zwei Jahre war es still um Transcense. Was habt ihr während dieser Zeit gemacht?
Thibault: Wir veröffentlichten unsere erste Android-Version im ersten Halbjahr 2015. Wir hatten unsere erste Finanzierungsrunde (Seed-Finanzierung) im 3. Quartal 2015. Dann brauchten wir ein Jahr, um das richtige Produkt zu entwickeln, einschließlich der Präsentationen über die Technologien. Die Firma brachte die App letztendlich im 3. Quartal 2016 auf den Markt.

Am 17. November 2016 tauchte das erste Video von «Ava» auf Facebook auf und sorgte weltweit für große Aufregung. Wie ist der Wechsel von Transcense auf Ava zustande gekommen? Welche Gründe gibt es?
Thibault: Um es klar zu machen: Transcense Inc. ist immer noch unser Firmenname, aber wir betreiben Geschäfte als Ava und wir denken «Ava» rund um die Uhr. Ava reflektiert unsere Visionen besser, nicht nur die barrierefreie Gruppengespräche betreffend, sondern eine komplett barrierefreie Welt: die Vision einer hörbaren-sichtbaren Barrierefreiheit Realität werden zu lassen.

Viele Länder weltweit warten darauf, die App Ava auf ihrem Smartphone zu installieren. Warum war die App noch nicht für alle Länder, besonders für Deutschland, Österreich und die Schweiz verfügbar?
Thibault: Wir sind ein kleines Team, und uns ist nur eine begrenzte Anzahl von Sprachen bekannt. Wenn man Ava den Nutzern sowie Fachleuten vorstellt, will man die eigenen Erwartungen erklären, um die Zielpersonen nicht zu enttäuschen. Hörbehinderte Menschen erfahren jährlich eine neue Ankündigung von einer Wunder-Technologie, die sich als unbrauchbar erweist oder übermäßig falsche Hoffnungen verbreitet. Das wollen wir nicht. Uns ist es sehr wichtig, bei Fragen da zu sein. Das verlangt mehr Leistung als nur die deutsche Spracherkennung.

Bevor zufriedenstellende Ergebnisse geliefert werden können, müssen manche Sprachen auch vorab eingearbeitet werden. Die gute Nachricht ist, dass das Produkt in mehreren Ländern in einer kurzen Zeitspanne verbreitet werden kann, da wir internationale Unterstützung erhalten. Aber die weltweite, barrierefreie Kommunikation bleibt nach wie vor unser Ziel.

Ava sieht auf den ersten Blick vielversprechend aus. Wie viel haben du und deine Projektpartner für die Umsetzung dieser Technologie an Zeit aufgebracht?
Thibault: Danke. Was zählt ist, wie wir es liefern. Dies ist eine permanente Mühe! An dieser Stelle habe ich ungefähr drei Jahre meines Lebens in Ava investiert. Davon zwei für das Feinkonzept, welches den technologischen Teil in Gang brachte.

Ist die App erstmals gestartet, fängt sie an, Gesprochenes in Schriftsprache zu übersetzen. Warum funktioniert Ava vom Gefühl her besser als Siri, Dragon oder Google Translate? Steckt eine spezielle Technologie hinter der App?
Thibault: Ein großer Teil von Avas Wertversprechen ist die Spracherkennung und die Art, wie wir mit den Technologien der Spracherkennung die Sprachdynamik einer Gruppe von Personen aufmischen. An sich allein ist Ava ähnlich wie Siri oder Google, aber wenn man sie täglich in einer Gruppe gleicher Personenzusammensetzung benutzt, dann wird die Software viel intelligenter.Sie passt sich besser an die Kommunikationsbedürfnisse an als vergleichbare Software.

Kannst du uns dieses Modell und dessen Funktionalität beschreiben?
Thibault: Ava ist eine Smartphone-App, die eine Person mit mehreren Personen in einer Unterhaltung verbinden kann. Die App hört der im Moment redenden Person zu und zeigt den Hörbehinderten in Echtzeit mit einem farbigen Diskussionsfaden, wer gerade etwas sagt. Es ist die schnellste Untertitelungserfahrung heutzutage, rund um die Uhr verfügbar und größtenteils viel bezahlbarer als gleichwertige Lösungen auf dem Markt.

Das Mikrofon des Smartphones muss immer in Richtung Gesprächspartner fokussiert sein, um die Fehlerquoten zu verringern. Kann Ava auch 360° Ton aufnehmen, ohne dass die Fehlerquote steigt?
Thibault: Es hängt vom Mikrofon ab. An einem Smartphone sind die Mikrofone für Situationen wie Telefongespräche optimiert, daher die Empfehlung, nah an diesem Mikrofon zu sprechen. Wenn man etwas Besseres hat, dann ist es wie besseres Hören: Es wird bestimmt helfen, Avas Leistungen zu erhöhen.
Aber es gibt 3G Smartphones: Diese haben die am verbreitetsten Mikrofone, über diese die Nutzer verfügen. Barrierefreiheit bedeutet auch die Sicherstellung, dass die Leute weltweit Zugang zu diesen Lösungen haben.

Ava lässt sich mit mehreren Gesprächspartnern vernetzten. Sind die Verbindungen zwischen den TeilnehmerInnen abhörsicher oder verschlüsselt? Zum Beispiel im Geschäftsalltag ist das ein heikles Thema.
Thibault: Ja, Ava nutzt SSL (Secure Sockets Layer), ein Protokoll, um die Audioinformationen zu übermitteln und zu schützen, mit demselben Sicherheitsniveau wie Siri. Desweiteren, im Gegensatz zu Google, ist unser Firmenmodell gänzlich nutzerfinanziert: Für uns ist es sehr wichtig, dass unser Modell unabhängig von einem werbegestützten Modell ist, wo die Daten als ein unsichtbarer Wert fungieren würde.

Was passiert mit den gesprochenen Texten und Audioaufnahmen auf dem Server? Sind diese für Ava alle einsehbar? Datenschutz?
Thibault: Nein, weil alle diese Arbeiten von einem Algorithmus erledigt werden. Die Daten werden zusammengefasst und anonymisiert. Wir arbeiten mit Krankenhäusern und Unternehmen, um sicherzustellen, dass wir gegenwärtig das richtige Sicherheitsniveau haben, wie zum Beispiel die HIPAA – Ordnungsmäßigkeit, wo der Zugang zu Transkripten beschränkt ist.

Wird es in Zukunft möglich sein, dass man die Transkription mit «copy&paste» kopieren und woanders einfügen kann, zum Beispiel bei Google Translate?
Thibault: Absolut.

Wird es möglich sein, in Zukunft den transkribierten Text gleichzeitig in eine andere Fremdsprache übersetzen zu lassen?
Thibault: Wir fokussieren unsere Ressourcen auf die Problemlösungen der Barrierefreiheit und sobald diese gut sind, konzentrieren wir uns dann auf andere Angelegenheiten.

Welche einschlagende Ideen und Funktionen möchtest du in Zukunft noch in die App einbauen?
Thibault: Wir mögen es, zu überraschen, daher werden wir momentan nicht über Dinge reden, die noch nicht existieren. Aber derzeit fokussieren wir uns hauptsächlich auf den Bau, die barrierefreie Zukunft wird -ab jetzt- in 10 Jahren sein.

Deutschland, Österreich und die Schweiz warten gebannt auf den Start von Ava im deutschsprachigen Raum. Weißt du schon, wann die App für uns kommen wird?
Thibault: Nochmal, eine betriebssichere und gute Lieferung ist essentiell.

Ava wird eine Nutzungsbegrenzung haben. In USA bezahlt man für «Unlimited» 29,90 US-Dollar. Wie hoch werden die Kosten für Deutschland sein?
Thibault: 29,90 Euro, wie derzeit in Frankreich. Diese Gleichwertigkeit ist notwendig heutzutage.

Was werden die nächsten Schritte mit dem Unternehmen «Ava» sein?
Thibault: Wir konzentrieren uns zunächst auf das Produkt, mithilfe von Millionen Feedbacks und Vorschlägen von Nutzern. Dann wird mit der Erweiterung begonnen, was die Barrierefreiheit rund um die Uhr betrifft, um Ava verbessert anbieten zu können. Daher liegt der Fokus auf Präzision, Einfachheit und Schnelligkeit.

Dein höchstes Lebensziel?
Thibault: Persönlich, die Technologie nutzen, wovon die Menschen profitieren und eventuell andere dazu inspirieren, das Gleiche für noble Zwecke zu tun. Im beruflichen Sinne: Bei der Erfüllung totaler Barrierefreiheit mitzuwirken, so schnell wie möglich.

Möchtest du der deutschsprachigen Fangemeinde noch etwas ausrichten?
Thibault: Ich bin sehr europäisch und der Grundwert, der uns nach einer Geschichte von Konflikten wiedervereinigt, ist die Offenheit gegenüber anderen Kulturen. Es wird Zeit, die Barrieren zwischen den Hörbehinderten und Hörenden zu entfernen. Wir sehen euch als wahrhaftige Forscher, Erfinder und mutige Menschen, nicht uns.
Unser Fokus liegt darauf, euch die Werkzeuge zu geben, um eure Möglichkeiten des Hörens zu fördern, eure Kultur zu teilen, eine größere und reichere Welt zu entdecken. Es werden unangenehme Begegnungen auftreten, aber höchstwahrscheinlich lebenslange Freundschaften. Ihr seid die Einzigen, die es durchziehen können. Teilt eure Erfahrungen und Errungenschaften mit uns. Von euch inspiriert, hilft es uns, jeden Morgen aufzustehen und gemeinsam die Barrierefreiheit von morgen zu verwirklichen.

www.ava.me

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