Menschen

Interview mit Musikpädagogin und Therapeutin Dr. Eva Mittmann

«Damit Inklusion gelingen kann, geht es darum, die Anverwandlung von Realität in einem neuen Erkenntnisprozess vorzubereiten, der grundsätzlich andere, ungewohnte Formen von Wahrnehmung impliziert und nebeneinander bestehen lässt.», das ist das Credo von Dr. Eva Mittmann, Musikpädagogin und Therapeutin. Uns erzählt sie nun, wie Menschen mit Hörbehinderung mit Musik in Verbindung kommen.

Hallo Eva Mittmann! Du bist Musiklehrerin und außerdem auch Lehrerin für hörbehinderte Schüler und Schülerinnen. Musik und Hörbehinderung, wie kommt das zusammen?

Eva: Man sollte andersherum einmal fragen: «Weshalb sollte das nicht zusammen kommen?» Wie hatte es der gehörlose Musiker Paul Whittaker so perfekt beschrieben: «Menschen, die Hörbehinderten die Beschäftigung mit Musik absprechen, denken nicht darüber nach, was Musik eigentlich ist.» Musik ist ein Kulturgut und grundsätzlich sollte das allen Menschen verfügbar sein. Und es gibt kaum einen Menschen, der nicht musikalisch ist, denn Musikalität, oder anders ausgedrückt die Liebe zur Musik, ist zutiefst in uns verankert. Sich gemeinsam im Rhythmus zu bewegen z.B. ist eine sehr starke Kraft und ebenfalls die Empfindung von Spannung und Entspannung von Harmonien. Solche Schwingungsverhältnisse sind für uns spürbar mit allen Sinnen, nicht nur über den Hörsinn.

Haben Deine Erfahrungen gezeigt, dass hörbehinderte Kinder musizieren können und vor allem auch wollen?

Eva: Ja, sicher. Und genau diese Erfahrungen haben mich zu meiner empirischen Studie inspiriert! Angefangen hat es damals, als ich während des Studiums im Gitarrenun-terricht an der Jugendmusikschule eine Schülerin mit Hörbehinderung unterrichtete. Dabei habe ich hautnah erleben können, wie begeistert sie von der Musik war. Dieses Erlebnis hat bewirkt, dass ich mich auf das Abenteuer des Musikunterrichts mit hörbehinderten Kinder eingelassen habe. Meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht: Während meiner zehnjährigen Unterrichtstätigkeit am Förderzentrum habe ich kaum ein Kind erlebt, das nicht durch Musik zu erreichen war.

Deine Doktorarbeit behandelt die Frage, wie man am besten hörbehinderte Schüler und Schülerinnen musikalisch fördern kann. Kannst Du uns kurz erzählen, zu welchem Ergebnis deine Studie gekommen ist?

Eva: Das ausschlagkräftigste Ergebnis zeigt sich darin, dass hörbehinderte Schülerinnen und Schüler ihre musikalischen Hörfähigkeiten durch Tanz und Bewegung zu Musik und vor allem durch Instrumentalspiel und Gesang signifikant verbessern können; und zwar nicht nur im rhythmisch-metrischen Bereich, sondern auch in tonalen Bereichen, sprich: ihrem Tonhöhenunterscheidungsvermögen. Außerdem kann durch stimmliche Intonation gekoppelt an das Spiel am Instrument die Modulationsfähigkeit der Stimme verbessert werden. Dazu braucht es aber auch eine gute Raumakustik, damit kein Störfaktor möglicherweise die Klangereignisse negativ beeinflusst.

Gibt es eine Art drittes Gehör? Wenn ja, was ist das und wie zeichnet sich es aus?

Eva: Wenn ich das richtig verstehe, meinst du mit der ersten Art des Hörens die Wahrnehmung über das Ohr. Die zweite Art des Hörens bezeichnet wohl das Hören mit technischen Hörhilfen. Dann wäre die dritte Art des Hörens, das Hören mit allen Sinnen, also auch das Wahrnehmen von Vibrationen, Schwingungen, Stimmungen. Die Resonanzen, die beim gemeinsamen Musizieren wirksam werden.

Du hast schon sehr viele Projekte durchgeführt. Was bezweckt ein Projekt und was trägt dies zur Inklusion bei?

Eva: Der Projektgedanke nimmt Bezug zum grundlegenden «Spirit» von Inklusion, nämlich dass jede(r) mit seinen speziellen Fähigkeiten, Neigungen und Ressourcen, unge-achtet seiner / ihrer Handicaps, Nationalität oder sozialer Herkunft, sich gleichwertig als wertvoll und wichtig fühlen kann, ernst- und wahrgenommen wird und zum Gelingen des großen Ganzen beiträgt. Ich liebe die Projektarbeit und kann mir nichts Besseres vorstellen, um SchülerInnen zu stärken und dazu zu bewegen, über sich selbst hinauszuwachsen und voneinander im wechselseitigen Miteinander zu lernen. Das aktuelle Projekt z.B. trägt den Titel «Empowerment mit Musik» und hat die Produktion eines gemeinsamen Musikvideos von hörenden und hörbehinderten Jugendlichen zum Inhalt. In diesem Sinne meint Empowerment hier, die eigenen Gestaltungsspielräume und Ressourcen wahrzunehmen und zu nutzen, um persönliche Interessen selbstbestimmt zu vertreten. Es ist also ein wesentliches Ziel der Projektarbeit, Verständnis füreinander und die Akzeptanz unterschiedlicher Kommunikationsformen zu fördern. Dies bedeutet, dass durch produktives Miteinander die Fähigkeit zur Empathie geschaffen wird und darüber hinaus die Schülerinnen & Schüler ohne Hörbehinderungen die Gebärdensprache als eigenständige Sprache kennen- und verstehen lernen! Interessierte finden dazu auf meiner Webseite unter www.dr-eva-mittmann.de ausführliche Informationen.

Kann Musik eine Brücke von Hörbehinderten zur allgemeinen Gesellschaft bilden?

Eva: Ja! Ganz großes JA! Denn beim Singen und Musizieren erleben sich hörbehinderte Kinder mit ihren Potenzialen jenseits ihrer Behinderungen. Zitat einer Schülerin: «Wenn ich Musik höre, dachte ich, ich könnte hören (also ohne CI) und singen. Es ist eine 2. Welt für mich…» Diese Art Transzendenz schafft Selbstwirksamkeit, Ermutigung und Ich-Stärkung. Darüber hinaus erleben wir uns beim gemeinsamen Musizieren und Tanzen in Resonanz mit den anderen – wir schwingen gemeinsam in einem Rhythmus und wir fühlen immer dann richtig gut, wenn wir in Resonanz mit anderen sind, wie es der Soziologe Hartmut Rosa beschrieben hat. So gesehen bedeutet das gemeinsame Erleben in und mit Musik eine direkte Teilhabe an der Gesellschaft jenseits aller Barrieren.

Lässt sich Musik und Spracherwerb sowie Hörerwerb miteinander verbinden?

Eva: Musik und Spracherwerb sind seit jeher untrennbar miteinander verbunden, denn die Basis zum Spracherwerb ist musikalischer Natur und bezieht sich auf die Analyse zeitlicher und tonaler Informationen. Dadurch gelingen uns verbesserte Lautunterscheidungen und bessere Segmentierung der Sprachlaute, wie neueste Forschungsergebnisse belegen. Je besser also die Unterscheidungsleistungen dieser musikalischen Parameter, umso erfolgreicher kann der Spracherwerb gelingen.

Welche Instrumente kannst Du spielen und singst Du auch?

Eva: Mein Hauptinstrument ist die Gitarre, meine Lieblingsbeschäftigung das Singen. Außerdem spiele ich im Rahmen meines Musikunterrichts rudimentär auch noch andere Instrumente, wie z.B. Keyboard, Bass, Schlagzeug und das Orff‘sche Instrumentarium.
Ist Musikunterricht an Förderschulen für Hören und Kommunikation sinnvoll?

Eva: Mehr als sinnvoll – nämlich unbedingt notwendig! Denn es bedeutet Hör- und Kommunikationstraining mit Spaß und Freude! Und nachhaltig lernen wir immer dann, wenn wir es mit Begeisterung tun. Wenn wir ein Instrument spielen, werden eine Vielzahl von Wahrnehmungsleistungen gleichzeitig erforderlich. Das versetzt unser Gehirn in erhöhte Aufnahmebereitschaft. Zudem erfordert das Musizieren in der Gruppe, dass wir uns mit den andern synchronisieren. Dadurch wird die Fähigkeit zur Empathie und die Soziabilität gefördert, indem alle aufeinander hören und sensibel aufeinander reagieren lernen.

Welchen Einfluss übt Musik auf ein hörbehindertes Kind aus?

Eva: Der Einfluss, den Musik auf ein hörbehindertes Kind ausübt, ist sicherlich individuell unterschiedlich und nicht pauschal zu beantworten. Dennoch lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass Musik für alle als eine Form des Selbstausdrucks jenseits der Sprache gelten kann. Und grundsätzlich können durch sensomotorische Erfahrungen mit Musik, nämlich das Hören und sich in Verbindung mit Musik bzw. Klängen zu bewegen, sowie dem Erzeugen von Lauten und Klängen (beim Vokalisieren, beim Singen mit Instrumenten und Gegenständen), Gefühlsreaktionen hervorgerufen werden, welche die sensorische Integration vorbereiten. Durch die Beschäftigung mit Musik werden also sinnliche Eindrücke und Körperreaktionen geordnet und verarbeitet, so dass sinnvolle Wahrnehmungen, Gefühlsreaktionen und Gedanken entstehen.

Was bedeutet Musik für Dich?

Eva: Musik ist für mich von allumfassender Bedeutung ein Quell ständiger Lebensfreude und Energie. Sie macht mich lebendig und glücklich. Was braucht es mehr?

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