Shit Happens

«Verstehen Sie mich?»

Nach mehr als vier Jahren in der österreichischen Metropole wurde es höchste Zeit für einen österreichischen Behindertenpass. Einfacher gesagt als getan. Nach monatelangem Warten erreichte mich endlich die Einladung zur medizinischen Bestandsaufnahme. Eine Reise in die Vergangenheit begann: Shit Happens!

Es hätte doch alles eigentlich so viel schöner sein können: eine in Deutschland geborene, junge Frau möchte in dem Land ihres Hauptwohnsitzes einen so genannten Behindertenpass beantragen, weil der deutsche Behindertenpass neben kostenlosen beziehungsweise preisreduzierten Eintrittskarten in Museen, Schwimmbädern und so weiter eben nicht alle Vorzüge des Lebens eines Hörbehinderten mit sich brachte – wie beispielsweise die Rückerstattung eines Teils der Kosten für die Jahreskarte der Wiener Linien oder aber unverzichtbare Leistungen wie das jährliche Budget für GebärdensprachdolmetscherInnen oder die Übernahme der Kosten für technische Hilfsmittel vom FSW (Fonds Soziales Wien).

So machte ich mich also Anfang des Jahres auf den Weg zum Sozialministeriumservice in unserem schönen 1. Gemeindebezirk. Denn die Annahme, meinen deutschen Behindertenausweis einfach hierzulande überschreiben oder adaptieren zu lassen (ich meine immerhin sind wir hier in der EU), entpuppte sich nämlich ziemlich schnell als Reinfall. Nein, nein, nein. Alles muss bürokratisch – bedeutet: absolut zeitraubend, papieraufwendig und umständlich – geregelt sein! So bereitete ich also meine Papiere für den Antrag vor. Es muss dazu gesagt werden, dass sich meine Hörbehinderung erst im Jugendalter aufgrund einer chronischen Erbkrankheit (Neurofibromatose Typ 2) entwickelte, die zudem auch für einige weitere körperliche Einschränkungen (fehlendes Gleichgewicht, Taubheitsgefühle u.Ä.) verantwortlich ist und deshalb ebenfalls als Einflussfaktor bei der Beantragung eines Behindertenausweises (in Deutschland sowie in Österreich) gesehen werden muss.

Das Problem an der ganzen Geschichte: aufgrund des seltenen Auftretens (1:35.000) kennt sich kaum ein Arzt mit dieser Erkrankung aus und schon gar nicht ein Arzt als Sachverständiger beim Sozialministeriumservice. Auch deshalb war ich im Vorfeld so sehr bemüht, einem erneuten Verfahren inklusive medizinischer Untersuchung zu entgehen. Tja, Fehlanzeige. Nachdem ich alle meine Unterlagen (unzählige Operationsberichte, aktuelles Tonaudiogramm, Kopie des deutschen Behindertenausweises) abgegeben hatte, teilte mir die freundliche Mitarbeiterin mit, dass ich mich auf eine Bearbeitungszeit von 3 Monaten einstellen solle. Anscheinend normal. Ich durfte letztendlich ganze 6 Monate warten, ehe ich zur Untersuchung – HNO und Neurologe – geladen wurde.

Gespannt und in Vorfreude auf lange Stunden im Wartezimmer fand ich mich zu früher Stunde beim besagten Amt ein und erklärte der Sekretärin noch einmal, dass ich bitte persönlich im Wartezimmer abgeholt werden muss, da ich ja hörbehindert bin. Sie verstand und schickte mich direkt vor das Zimmer des HNO-Arztes. Ein etwas burschikoser Mediziner im gesetzten Alter empfing mich lautstark (er wusste über meinen Hörstatus Bescheid) und begann die Untersuchung. Von meinem langjährigen Hörakustiker in Deutschland technisch so ziemlich verwöhnt, erschrak ich erstmals über das Equipment. Ein Tonaudiogramm wurde anscheinend noch auf die alte Art händisch aufgezeichnet, der Test für das Sprachverständnis per Kassette vorgenommen und auch die Instrumente erinnerten eher an ein Krankenzimmer der frühen 60er Jahre. Ich wappnete mich für eine Reise in die Vergangenheit. Der Arzt hingegen, auch wenn er die alte Schule verkörperte, war ungemein sympathisch und versicherte mir, sich um Hochdeutsch zu bemühen (scheiterte kläglich).

Zuerst wurde ich nach der NF2 befragt, und danach wurde mein Hörstatus geprüft. Der altbekannte Hörtest via Kopfhörer wurde rapide verkürzt, und ich bekam nur 3 Töne vorgespielt. Nach einem Blick in beide Ohren dann eine für mich völlig neue Untersuchung: «Bitte schließen sie die Augen». Gesagt, getan. Ich vernahm heißen Atem. Sprache? Nein. Noch einmal. Noch einmal. Ein Stupser – «Verstehen sie das?» Ach so. Es wurde in mein Ohr geflüstert. «Äh nein.» Anschließend entfernte sich der Arzt um rund einen Meter von mir und hielt sich die Hand vor den Mund. Vermutlich sagte er etwas. Ob ich was verstehe. Kopfschütteln. Ein kurzes Mustern, dann tippte er eifrig in die Tasten. Belustigt wartete ich auf weitere Überraschungen. Und die kamen dann auch prompt. Um mein Gleichgewicht zu prüfen, musste ich mich (wie ich dies schon von Routineuntersuchungen kannte) mit geschlossen Augen auf beide Beine stellen. Ich schwankte. Dann auf einem Bein.

Ich fiel um. «Mmmh». «Diese Brille kennen Sie wahrscheinlich schon.» Ich saß wieder auf meinem Stuhl und mir wurde eine weiße Brille mit riesigen Vergrößerungsgläsern auf die Nase gesetzt. Was dann kam hatte ich nicht erwartet: Der Arzt nahm meinem Kopf zwischen beide Hände und schüttelte mich einmal kräftig. Und ich meine kräftig. Völlig entgeistert und ängstlich starrte ich in die Augen des Arztes – er schaute skeptisch. Ein letztes Mal munteres Tippen während ich meine Orientierung wiederzufinden suchte und mich fragte, wie viel österreichisch-behindert ich wohl sei. Der nette Arzt geleitete mich anschließend wieder ins Wartezimmer und beteuerte mir, dass mich der Neurologe nun holen würde. Natürlich kam der nicht. Zwei Mal wurde jemand per Lautsprecher gerufen. War mein Name dabei?

Diese Untersuchungen liegen nun bereits einen Monat zurück. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse bzw. die Beurteilung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen und vor allem auf den etwaigen Unterschied zu meinem deutschen Ausweis. Das bleibt abzuwarten, aber eines ist nicht zu leugnen: das Prozedere um die Ausstellung eines Behindertenausweises gehört hierzulande reformiert und zwar schnellstmöglich. Bei einem, für Menschen mit Behinderungen so wichtigen Dokument, ist eine unzulängliche und verstaubte Untersuchung, wie ich sie kennenlernte, nicht nur riskant, sondern absolut nicht vertretbar. Die Bürokratie noch nicht mal mit eingeschlossen.

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